Unter einer unscheinbaren Klinkerfassade kommt Ungeahntes zutage: Die Wiederentdeckung eines scheinbar verschwundenen Hauses in Aldrup

27.02.2024 Niklas Regenbrecht

Hof Hillebrant in der Bauerschaft Aldrup.

Frank Högg

Bauliche Zeugen der vormodernen Landwirtschaft in Westfalen und Lippe sind die in einigen Landstrichen noch recht häufig zu findenden niederdeutschen Hallenhäuser. Für diese markanten Wohn- und Wirtschaftsgebäude ist charakteristisch, dass sie – aus moderner baubiologischer und ökologischer Sicht günstig – unter einem großflächigen, weit herabgezogenen Dach, das höher als der darunter befindliche Hauskörper ist, alle Funktionen des bäuerlichen Hofes wie Wohnen, Kochen, Schlafen, Tierhaltung, Vorrats- und Futterhaltung in einem ausgeklügelten, seit dem Mittelalter tradierten, effizienten und elementaren Ordnungssystem vereinen. Aufgrund seiner (bau-)kulturellen Bedeutung wurde das niederdeutsche Hallenhaus im 50. Jahr des Bestehens der Interessengemeinschaft Bauernhaus (IGB) zum „Haus des Jahres 2023“ gekürt und in zwei Ausgaben des „Holznagels“, der Zeitschrift der Hausfreunde, eingehend gewürdigt.

Im Folgenden soll eines der ältesten erhaltenen Hallenhäuser in Nordwestdeutschland, das Teil einer Hofanlage im westlichen Münsterland am Südrand des Teutoburger Waldes ist, unter besonderer Berücksichtigung forschungsgeschichtlicher Aspekte näher vorgestellt werden. Es handelt sich um das Zweiständer-Längsdielenhaus des Hofes Hillebrant in der Bauerschaft Aldrup des Ortes Lengerich. Es ist der Hausforschung schon seit vielen Jahren bekannt und fand auch wegen seiner sprachgeschichtlich hochinteressanten Torinschrift am Wirtschaftsgiebel Beachtung. Die Inschrift fällt vor allem durch die interessante Mischung von unterschiedlichen, im 16. Jahrhundert gebräuchlichen Schriftarten der Textura und lateinischen Großbuchstaben, etwa bei dem abgekürzten „A(nn)o“ oder der Christusformel „IHS“ auf. Der Name des erbauenden Bauern Johan Hillebrant“ ist interessanterweise vom Schnitzer der Inschrift durch einen Nasalstrich abgekürzt worden.

Torinschrift am Wirtschaftsgiebel.

Die Besitzer des Hofes Hillebrant sind seit dem 16. Jahrhundert in den dörflichen Quellen überliefert. Im Knechtgeldregister, einer zeitgenössischen Auflistung der vom Bauern zu leistenden Abgaben, von 1545 wird Johann Hillebrant in Aldrup genannt. Er war anscheinend durchaus wehrhaft und forderte im Zweifel auch mit Gewalt sein Recht ein wie anlässlich einer Fehde dokumentiert ist, die Hillebrant gegen den Rat der Stadt Osnabrück im Jahr 1555 geführt hat. Der Hof von Johann Hillebrant war im 16. Jahrhundert befestigt und gehörte als „halber Erbe“ zu den größten Höfen der Bauerschaft. Hillebrand zahlte im Jahr 1595 kein Knechtgeld.  

Zusätzlich zum Haupthaus werden für das 17. Jahrhundert eine Leibzucht (Altenteil) und ein Backhaus auf dem Hof genannt. Im Dreißigjährigen Krieg erscheint der Hof von Remmert Hillebrant um 1639 mit seinen Ländereien, Acker-Einsaaten und Heuerntemengen im Verzeichnis der Ländereien. Während dieser Zeit war der Hof Hillebrant wie viele andere Höfe stark durch Schulden und Abgaben belastet. Bis ins 20. Jahrhundert hinein blieb das Haupthaus in seinem Fachwerk im Wesentlichen bestehen. Dies geht aus historischen Fotos der Zeit um 1940 hervor.im Jahr 1926 hatte der damalige Hofbesitzer Colon August Klinker, dann einen kompletten Neubau des Hofes beantragt. Das Haupthaus sollte achsversetzt, mit einem Seitenflügel und massiven repräsentativen Backsteingiebeln versehen, neu aufgeführt werden.

Hof Hillebrant in der Bauerschaft Aldrup.

Das ursprüngliche Kernbaugefüge des Hauses ist heute außer am Wirtschaftsgiebel von außen nicht mehr ablesbar, denn der Bau wurde in den 1980er Jahren mit schmucklosen massiven Backsteinfassaden aus industriell gefertigten Klinkern versehen. Das Haus war bereits in den 1920er Jahren teilweise desolat. Aus dem Jahr 1923 und aus dem Jahr 1954 existieren detaillierte Bauzeichnungen zunächst vom Abriss und Neubau, dann vom Umbau des Hauses mit weitgehender „Versteinerung“ des äußeren Fachwerks.

Der Hausforscher und Gründer des Freilichtmuseums Detmold, Dr. Josef Schepers (1908 – 1989), der das Haus in den 1940er Jahren aufmaß, konstatierte im Jahre 1943, der Bau sei mit Ausnahme seines Wirtschaftsgiebels und des Dielentores von 1558 mit dem ursprünglich darüber befindlichen Vollwalm und dem 1777 als Steilgiebel erneuerten Dachdreieck letztlich abgebrochen worden. Der Schüler von Schepers, Wilhelm Schmülling (1928 – 2017), ging in seiner 1951 erschienenen Dissertationsschrift lediglich auf die interessante Hausinschrift am Wirtschaftsgiebel ein. Zum Erhaltungszustand des Haupthauses resümierte der westfälische Bauforscher Fred Kaspar 1986 das Haus sei im Inneren nicht mehr erhalten.

Erst in der jüngsten Vergangenheit ergab sich die Veranlassung, diesen Befund noch einmal zu überprüfen. Auslöser war eine Anfrage des Kunsthistorikers Jakob Hofmann, der bei einem Ortstermin mit der unteren Denkmalschutzbehörde Gelegenheit hatte, das „versteinerte“ Bauernhaus mit dem alten Giebel auch im Inneren zu begehen. Die LWL-Bauforschung beschäftigte sich daraufhin nach 35 Jahren erneut mit dem Hof. Neben den Resten der alten, teilweise noch wasserführenden Gräfte der 16. Jahrhunderts konnten der Speicher von 1783 und das Innere des Haupthauses in Augenschein genommen werden. Hierbei konnte der Autor feststellen, dass ein Großteil des originalen Kernbaugefüges von 1558 im Wirtschaftsteil mit Diele und Stallseitenschiffen hinter den modernen Backsteinfassaden entgegen den früheren Vermutungen noch in situ erhalten war.

Hof Hillebrant in der Bauerschaft Aldrup.

Die erneute Untersuchung von Hof Hillebrand hat ergeben, dass vom Kernbau des Haupthauses mindestens acht der ursprünglich 14 Gebinde im Wirtschaftsteil mit den Jochbalken, dem Rähm und den gekehlten Kopfbändern in Längs- und Querrichtung des Gefüges weitgehend unverändert geblieben sind. Die Baueinheitlichkeit ließ sich durch die dendrochronologische Holzaltersbestimmung von Balken des Tores und des Binnengerüstes bestätigen. Alle Eichen der Zimmermannskonstruktion sind im Holzeinschlagwinter des Jahres 1557/58 (d) gefällt worden. Die Originalkonstruktion wies in den Seitenschiffen weit vorkragende Deckenbalken auf.

Die großen gekehlten Kopfbänder in der Diele sind fast alle im originalen Konstruktionszusammenhang erhalten. Im Bereich des einstigen Fletts waren noch Teile der Luchtbalken einer niederen Lucht in Zweitverwendung zu finden. Das Hausdach bestand größtenteils noch aus den 1777 sekundär abgebundenen Sparrenpaaren von 1557/58 (d). Durch den erhaltenen Originalbestand ließen sich gefügekundlich zahlreiche weitere Aussagen treffen, etwa die ursprüngliche Lage der Hillenregel und der Hillenbalken oder die Lage der ursprünglichen Traufwandständer.

Das Flett mit dem Kaminblock und das bis 1960 noch vier Räume mit Fachwerkwänden umfassende Kammerfach ist noch heute an den detaillierten Zeichnungen des geplanten, aber nicht ausgeführten Umbaus zu erschließen. Erst der Hofeigentümer Willhelm Große-Stockdieck, der Großvater des heutigen Eigentümers, ließ um 1980 das Bauernhaus außen und im Wohnteil modernisieren. Dabei wurde der auch nach 480 Jahren noch als Kuhstall genutzte Wirtschaftsteil lediglich im unteren Teil der wuchtigen Ständer durch Wechselriegel unterfangen und durch schlanke Kanthölzer in 14 Boxen unterteilt. Hierdurch erhöhte sich die Anzahl der damals noch in Anbindehaltung eingestallten Rinder von 12 auf 14 Tiere je Seitenschiff. In den 1980er Jahren waren solcherart Ressourcenschonung und Effizienz durch Verdichtung der Viehhaltung auf vielen Höfen in Westfalen anzutreffen.

Plan, Hof Hillebrant in der Bauerschaft Aldrup.

Aktuell werden im DLBW der Hof Meyer zu Stieghorst mit seinem inschriftlich am Hoftor datierten Haupthaus von 1789 und der Hof Schulze-Autmaring mit Haupthaus von 1760 erforscht und als Kulturdenkmale gewürdigt. Die Denkmalwertbegründung der im Stadtgebiet von Bielefeld und im nördlichen Münsterland gelegenen Höfe   liegt bei beiden Hofstellen in der besonderen Kontinuität der über 200jährigen landwirtschaftlichen Nutzung von der Erbauung der jeweiligen Haupthäuser in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis hin zu den bauhistorisch beachtenswerten Umbauten im 19. Jahrhundert. Auch die umfangreichen Neubauten von Ställen, Scheunen und Wohngebäuden im frühen 20. Jahrhundert sind ausdrücklich Teil der Bewertung als Kulturdenkmal.  

Die Untersuchung und Dokumentation des oft über viele Jahrzehnte in den Bauernfamilien tradierten Gebäudebestandes liefert wichtige Erkenntnisse über den Alltag in vergangenen Jahrhunderten.  Ausdrücklich sollen dabei aber auch jüngste bauliche Modernisierungen der 1980er Jahre denkmalpflegerisch nicht ausgeklammert werden, denn sie berichten von einem tiefgreifenden Strukturwandel in der Landwirtschaft, der sich auch und gerade baulich dokumentiert.

Hof Hillebrant in der Bauerschaft Aldrup.

Literatur:

Kaspar, Fred: Fachwerkbauten des 14. bis 16. Jahrhunderts in Westfalen. Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland 52 (Münster 1986).

Schepers, Josef: Das Bauernhaus in Nordwestdeutschland. Schriften der Volkskundlichen Kommission im Provinzialinstitut für Westfälische Landes- und Volkskunde 7 (Münster 1943).

Schmülling, Wilhelm: Hausinschriften in Westfalen und ihre Abhängigkeit vom Baugefüge. Schriften der Volkskundlichen Kommission im Provinzialinstitut für Westfälische Landes- und Volkskunde 9 (Münster 1951).

Schumann, Gerd: Geschichte der Stadt Lengerich 1. Von den Anfängen bis zur Stadtwerdung 1727 (Lengerich 1981).

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