Schwerpunkt Fotografie: „Erinnerungen an den Feldzug im Westen“

08.03.2024 Kathrin Schulte

Im Archiv für Alltagskultur befinden sich mehrere Fotoalben aus dem Ersten Weltkrieg. Zwei davon (hier die beiden Alben auf der rechten Seite des Bildes) sollen in diesem und dem folgenden Beitrag näher betrachtet werden.

„Erinnerungen an den Feldzug im Westen“

Fotoalben aus dem Ersten Weltkrieg im Archiv für Alltagskultur, Teil 1

Kathrin Schulte

Zwar wird der Erste Weltkrieg als „erster Medienkrieg“ bezeichnet; der erste Krieg, der fotografisch festgehalten wurde, ist er allerdings nicht. Bereits im Krimkrieg (1854 – 56), im Amerikanischen Bürgerkrieg (1861 – 65) und den Reichseinigungskriegen (1864, 1866 und 1870/71) waren Fotograf:innen Teil der Truppenverbände und fertigten Kriegsfotografien an. Technisch war die Fotografie im 19. Jahrhundert allerdings nur bedingt kriegstauglich: Die Ausrüstung (Kamera, Stativ, unbelichtete Bildplatten) war sperrig, die Belichtungszeiten der Kameras erlaubten keine Aufnahmen von Bewegungen, zur Entwicklung mussten komplette Dunkelkammern transportiert werden. Auch die Bildsprache entsprach eher der Kriegsmalerei und zeigte vornehmlich ein kultiviertes, unblutiges Bild des Krieges.

Zu Beginn des Ersten Weltkriegs war die Situation eine andere. Die Fotografie hatte sich technisch weiterentwickelt, durch die deutlich kleineren Kodak-Rollfilmkameras konnten nun auch Amateur:innen an der Front fotografieren und die Bilder mitunter bereits in Frontnähe entwickeln. Auch die Drucktechnik hatte sich weiterentwickelt, weshalb in der Presse der am Krieg beteiligten Nationen nun auch Fotos gezeigt werden konnten, die große Teile der Bevölkerung erreichten. Damit hatte die Fotografie für den Ersten Weltkrieg eine weitaus größere Bedeutung als in den vorherigen Kriegen. Vor allem wurde die Kriegsfotografie als Mittel der Propaganda eingesetzt: Die vermeintlich objektiven, die Realität abbildenden Fotos inszenierten den Krieg und die jeweiligen Soldaten als heroisch, gerecht und siegreich.

Der Austausch von Fotografien zwischen Front und Heimat fand auf unterschiedlichen Wegen statt. So waren Fotografen als Kriegsberichterstatter Teil der Truppen und fertigten Bilder für militärische Zwecke, für die Medien (Tageszeitungen, Illustrierte) und für die Privatwirtschaft (Postkartenverlage). Unter den Soldaten befanden sich aber auch (Amateur)Fotografen, die den Frontalltag dokumentierten und die Bilder als Feldpost an ihre Familien schickten. Oftmals vervielfältigten sie die Fotos für die anderen Soldaten der Truppe, die diese weiterverbreiteten.  

In der in Deutschland überlieferten bildhaften Erinnerungskultur an den Ersten Weltkrieg steht der deutsche Soldat im Fokus, der an der Front als siegreiche Heldenfigur inszeniert wird. Frauen hingegen sind selten Teil dieses Bildspektrums. Ist dies doch einmal der Fall, werden sie meist als Teil der „Heimatfront“ inszeniert, der die Versorgung der Bevölkerung gewährleistet oder die Rüstungsindustrie unterstützt. Die Rolle der Frau ist klar: Sie befinden sich fernab des Kriegsgeschehens und tun an der „Heimatfront“ ihr Möglichstes, um die Truppen im Feld mit Munition, Kleidung und Nahrung zu unterstützen und gleichzeitig das alltägliche (Über-)Leben in der Heimat zu gewährleisten.

Die Perspektive des Soldaten an der Westfront findet sich auch in den meisten Fotoalben wieder, die im Archiv für Alltagskultur aufbewahrt werden. Meist enthalten sie ähnliche Fotos: Gruppenbilder von Soldaten vor ihrem Einsatz, Portraitfotografien meist des Besitzers des Albums, Fotos zerstörter (meist französischer) Städte, seltener Fotos der Soldaten in ihrer Stube oder im Unterstand, manchmal Fotos toter gegnerischer Soldaten im Schützengraben oder neben einem abgeschossenen Flugzeug. Meist wurden einige der Fotos als Feldpostkarten genutzt, auf deren Rückseite der Soldat an seine Freunde oder Familie meldete, es gehe ihm gut und kurze Eindrücke seines Alltags an der Front schilderte. Teilweise wurden im Nachhinein Daten auf den Fotos ergänzt: Die Soldaten benannt, teils mit Todesdatum versehen.

Zwei der Alben im Archiv für Alltagskultur weichen von diesem Bildprogramm ab. Sie sollen im Folgenden vorgestellt werden.

Erinnerungen an den Feldzug im Westen – Krankenpflegerinnen im Kriegseinsatz

Das Album mit der Inv. Nr. 3040 stammt aus dem Besitz der Familie Schepper. Einer Notiz auf der Innenseite des Einbands nach dokumentiert es den Einsatz der Fürsorgerin Christine Schulte-Lippern, die 1914 bis 1918 am Feldzug im Westen teilnahm. Das Fotoalbum mit weinrotem Einband und Verzierung im Jugendstil sticht bereits gestalterisch heraus: Auch der Innenteil ist überraschend. Auf unterschiedlich eingefärbten Seiten befinden sich jeweils vier Aussparungen, hinter die die Fotos gesteckt werden können.

Die im Album zusammengestellten Fotografien halten die Erinnerungen einer Fürsorgerin fest, die vermutlich als Hilfsschwester im Fronteinsatz beim Roten Kreuz arbeitete.  Zu Kriegsbeginn begaben sich allein aus den Ortsvereinen des Deutschen Roten Kreuzes 6000 Schwestern, 1000 Hilfsschwestern und 7000 Helferinnen hinter die Front, um bei der medizinischen Versorgung der verletzten Soldaten mitzuwirken. Die unterschiedlichen Uniformen der Schwestern, die im Album zu sehen sind, scheinen die verschiedenen Professionalisierungsgrade widerzuspiegeln. Bei vielen der Fotos im Album handelt es sich um Gruppenbilder, meist zeigen sie die Schwestern und Soldaten, die vermutlich im Sanitätsdienst eingesetzt wurden. Ein weiteres Motiv, das sich häufig im Album findet, sind Ortsansichten: Sie zeigen die Landschaft in Frankreich, viele der Bilder geben aber auch Eindrücke zerstörter französischer Städte.

Auf den ersten Seiten des Albums ist häufiger ein Soldat zu sehen, der in den Bildunterschriften als „Carlchen“ bezeichnet wird – so ist eines der Fotos auf der ersten Seite mit „Carlchen beim Schwager in Ardenie“ betitelt, auf der folgenden Seite zeigt eines der Bilder „Carlchens Abschied von Vouziers“. Von einer verwandtschaftlichen Beziehung zwischen Christine, der Eigentümerin des Albums und wohl auch Fotografin einiger der Fotos, und „Carlchen“ ist auszugehen.

Das Album bricht insofern mit den Bildtraditionen des Ersten Weltkriegs, als dass es die Perspektive einer Frau abbildet. Außerdem zeigt es zahlreiche Aufnahmen aus dem Alltag hinter der Front: Die Gruppenbilder übermitteln eine entspannte Atmosphäre, sie zeigen beispielsweise lachende Schwestern und Soldaten auf einer Wiese, ein anderes zeigt eine Gruppe bei einer Flasche Sekt oder beim Kartenspielen. Auch Freizeitaktivitäten sind zu sehen: Schwestern und Soldaten bei einer Schneeballschlacht, Schwestern mit Hundewelpen auf dem Arm oder bei einem Ausflug. Außerdem gibt es Fotos verbundener Soldaten aus den Lazaretten und ein Bild, auf dem eine Schwester mit zwei Hunden und mehrere Soldaten eine auf einem Fahrzeug montierte Flak besichtigen. Den Beschriftungen der Fotos nach wurde Christine im nördlichen Frankreich eingesetzt, im Raum zwischen Cernay und Sedan. Auf der ersten Seite des Albums befindet sich ein Luftbild, die Beschriftung „Nördliche Champagne Fliegeraufnahme“ deutet darauf hin, dass es sich eigentlich um eine militärische Aufnahme handelt – diese finden sich in der Regel nicht in privaten Fotoalben. Möglicherweise handelt es sich bei der Aufnahme um das Geschenk eines Soldaten, das er seiner Pflegerin während seines Lazarettaufenthaltes machte. Da die meisten Fotografien aus dem Album den Alltag der Schwestern zeigen, ist davon auszugehen, dass die Besitzerin des Albums selbst fotografiert hat oder jemand anderes auf der Station eine Kamera besaß und Christine die Fotos kaufte oder geschenkt bekam.

Das Album ist eine außergewöhnliche Quelle, da es eine ganz andere Sicht auf den Krieg präsentiert. Die nahe der Front aufgenommenen Fotografien dokumentieren einen Alltag abseits der Schützengräben, Freizeit und Menschen in gelöster Stimmung. Dennoch ist der Krieg präsent, zum Beispiel in Form verwundeter Soldaten, zerstörter (feindlicher) Städte und des Kriegsgeräts, das die Schwestern und die Soldaten besichtigen. Zu einem Album zusammengestellt, das den Krieg überdauerte (und überdauern sollte), wurde vor der Kulisse des Krieges mit fotografischen Mitteln eine Parallelwelt ins Bild gesetzt. Die so geschaffene Erinnerung blendet die Gräuel des Krieges aus, um statt ihrer der Sehnsucht nach Normalität, Begegnung, Freude und Kameradschaftlichkeit Raum zu geben. 

Um das zweite Album, das – allerdings aus anderen Gründen – aus den Beständen des Archivs für Alltagskultur hervorsticht, soll es im zweiten Teil dieses Beitrags gehen. Fortsetzung folgt!

 

Literatur:

Holzer, Anton (Hg): Mit der Kamera bewaffnet. Krieg und Fotografie. Marburg 2003.

Holzer, Anton: Die andere Front. Darmstadt 2007.

Köster, Markus, Fotografien von Front und Heimatfront. Der Erste Weltkrieg in Bildsammlungen aus Westfalen 63, 2013, S. 241–294.

Flemming, Thomas: Zwischen Propaganda und Dokumentation des Schreckens. Feldpostkarten im Ersten Weltkrieg. In: Karmasin, Matthias: Krieg, Medien, Kultur. Neue Forschungsansätze. Paderborn 2007, S. 67 – 88.

Hüppauf, Bernd: Kriegsfotografie und die Erfahrung des Ersten Weltkriegs. In: Naumann, Barbara: Vom Doppelleben der Bilder. Bildmedien und ihre Texte. München 1993, S. 29 – 50.