Kolonialismus im Bücherschrank (Teil 2): „Wer will in die Kolonien?“

23.05.2023 Marcel Brüntrup

Christiane Cantauw

Im Bücherschrank von Arthur P., der in diesem Blog vor einiger Zeit thematisiert wurde, fand sich noch eine weitere Schrift, die hier genauer untersucht werden soll. Es handelt sich um ein 13,5 X 19 Zentimeter großes, in graues Leinen eingebundenes, 228 Seiten umfassendes Buch unter dem auf dem Umschlag in Frakturschrift eingeprägten Titel „Wer will in die Kolonien?“.

Das leinengebundene Buch von Adolf von Duisburg sollte auf eine Tätigkeit in den Kolonien vorbereiten. Welche das im Erscheinungsjahr 1938 sein sollten, wird nicht weiter erläutert. (Foto: Kommission Alltagskulturforschung)

Verfasst wurde die Schrift von Dr. Adolf von Duisburg (1883 – 1946), dem Leiter des Kolonialkundlichen Instituts der Deutschen Kolonialschule im hessischen Witzenhausen. Erschienen ist sie 1938 im Verlag Dr. Hans Riegler, Berlin. Laut Untertitel sollte das Buch ein „Wegweiser zur kolonialen Arbeit“ sein. Der Autor Adolf von Duisburg hatte selbst lange Zeit in den Kolonien gelebt, er gehörte als Offizier von 1909 bis 1916 zur kaiserlichen Schutztruppe in Kamerun. Nach dem Ersten Weltkrieg ging er als Dozent an die Deutsche Kolonialschule in Witzenhausen. 1924 übernahm er die Leitung des dort angesiedelten Kolonialkundlichen Instituts und des Archivs der Deutschen Kolonialschule. 1937 trat er in die NSDAP ein.

Das Kolonialkundliche Institut war eng an die Kolonialschule angegliedert und bot den Absolventen des dortigen viersemestrigen Diplom-Studiengangs die Möglichkeit, ihr Wissen in einem von ihnen gewählten Spezialgebiet weiter zu vertiefen. Dazu dienten nicht zuletzt die Sammlungen des Archivs.  

Das Buch, das erklärtermaßen „der Vorbereitung zu kolonialer Arbeit“ (S.6) dienen sollte, ist in 39 Abschnitte gegliedert, Vorwort und Schlußwort nicht mitgerechnet. Schaubilder, Karten und 34 schwarz-weiß-Fotografien ergänzen die Textinformationen.

Das Schaubild veranschaulicht die argumentative Ausgangslage des Autors. Kolonialbesitz ist für ihn angesichts von Bevölkerungsüberschuss und Wirtschaftsleistung des Deutschen Reiches alternativlos. (Foto Archiv für Alltagskultur)

Gleich das erste Schaubild informiert über die „kolonialen Reserveräume der Völker Europas“. Dort erfährt der/die Leser:in, dass der Kolonialbesitz Frankreichs das Mutterland gebietsmäßig um das 22fache übersteigt und dass der englische Kolonialbesitz 105-mal so groß ist wie England selbst (weitere Beispiele sind Portugal, Holland und Belgien). Unter der deutschen Flagge steht in dem Schaubild lediglich die Frage „und Deutschland?“. Belegt werden soll damit die Notwendigkeit deutschen Kolonialbesitzes, der angesichts der „Raumnot“ und des Bevölkerungsüberschusses in Deutschland sowie als Absatzmarkt und Rohstofflieferant für die deutsche Industrie unerlässlich und folgerichtig erscheinen soll.

Mit Überlegungen, wie Deutschland wieder zu einer Kolonialmacht werden könnte, hält sich von Duisburg allerdings nicht weiter auf. Er geht davon aus, dass die deutschen Siedler und Kaufleute Tatsachen schaffen werden, die irgendwann in naher Zukunft auch zu politischen Veränderungen führen. Grundsätzlich geht es ihm ohnehin eher um praktische Handreichungen für diejenigen, die bereits entschlossen sind, sich in Übersee eine Existenz aufzubauen (S.6). Ihnen sollen möglichst konkrete Informationen an die Hand gegeben werden, die für die Existenzgründung und das alltägliche Leben nützlich sind (Informationsstellen, Einreisebestimmungen, Ausrüstung, Schiffsverbindungen, Lebenshaltungskosten, Kapitalbedarf, Landerwerb, Nachrichtenverkehr, Zeitungswesen, Maße und Gewichte). Sogar die Arbeitstiere, die deutschen Vereine in Übersee, der „Kraftwagen in den Tropen“, die „Frau in den Kolonien“ und vieles mehr werden in eigenen Kapiteln behandelt. Zwei der insgesamt 33 Kapitel sind von Gastautoren verfasst: Karl Polte führt in die Besonderheiten der „Tropenphotographie“ ein und Jakobus Onnen erläutert das Thema „Leibesübungen in den Tropen“. Beide Autoren waren der Kolonialschule als Dozenten eng verbunden.

Die Fotografien (insgesamt 34 schwarzweiß-Fotografien auf gesonderten, nicht paginierten Druckbögen, Fotodruckpapier) zeigen beispielsweise einen Schnelldampfer der Deutschen Afrika-Linie samt Impressionen von den Einrichtungen (Kabine, Speisesaal, Tennisplatz, Schwimmbad) und dem Leben an Bord, Ansichten der Deutschen Kolonialschule in Witzenhausen, Einblicke in das Leben deutscher Siedler in Afrika, afrikanische Infrastruktureinrichtungen (Ev. Kirche, „Europäer-Krankenhaus“, „Haus der katholischen Mission in Bagamoyo“, Hotel) sowie Nutztiere und Nutzpflanzen. Die meisten Fotografien stammen von der Bildstelle des Reichskolonialbunds in Berlin. Die Fotos von der Überfahrt wurden von der Fotojournalistin Ilse Steinhoff (1909 – 1974) gefertigt und die Bilder von der Kolonialschule stammen von dem Ansichtskartenverlagshaus Kettling und Krüger aus Schalksmühle. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass Qualität und Inhalt der Fotografien eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Die Bilderfolgen sind sorgfältig durchkomponiert, auch wird nichts gezeigt, was einen Auswanderungswilligen in irgendeiner Form abschrecken könnte: Die Überfahrt wird als Erholungsreise dargestellt, Wohnen, Infrastruktur, Flora und Fauna in Übersee machen einen einladenden Eindruck. Insgesamt könnte man die Fotografien durchaus als verheißungsvoll bezeichnen.

Sie bilden ein Gegengewicht zu einigen Hinweisen im Text, die Träume von „Jagd und Abenteuer“, leichten wirtschaftlichen Erfolgen oder paradiesischen Zuständen als Fantasien entlarven, denen von Duisburg mit konkreten Zahlen (Kosten von Landerwerb, Wirtschaftlichkeitsrechnungen) und teils auch mit konkreten Warnungen entgegentritt („Wer als Lehrerin, Erzieherin oder Hilfe im Haushalt hinausgehen will und die Hoffnung hat, sich später vielleicht ein deutsches Heim zu gründen, darf nicht unterlassen, vorher genaue Erkundigungen einzuziehen“ (S.77)).

Die Menschen in Afrika, Asien, Ozeanien oder (Süd)Amerika finden erstaunlich selten Erwähnung. Sie werden überwiegend als „eingeborene Arbeiter“ eingestuft und entsprechend ihrer Arbeitsleistung klassifiziert. Als rechtmäßige Besitzer:innen des Landes, auf das die Auswanderer reflektieren, werden sie nicht adressiert. Ebenso wie die Flora und Fauna ihrer Heimat sind sie eine Ressource, die nutzbar ist.

Anders die Auswanderungswilligen, also die Adressaten des Buches: Sie und ihre Vorstellungen, physischen und psychischen Voraussetzungen, ihre Chancen und Möglichkeiten sowie ihre Bedürfnisse werden eingehend besprochen. Das geht soweit, dass von Duisburg in einem eigenen Kapitel auch Betätigungen für die Freizeit vorschlägt. Darunter versteht er beispielsweise „wissenschaftliche Hilfsarbeit“, die „einsame Stunden“ sinnvoll zu füllen vermöge: „Jeder sollte wissen, welche Befriedigung die Beschäftigung mit Dingen gibt, von denen der Laie glaubt, daß sie nur ein Vorrecht der Wissenschaft seien“. (S.187) Explizit regt er die Leser:innen dazu an, sich wahlweise mit der Wetter- und Erdkunde, der Botanik, der Zoologie, der Sprachforschung, der Anthropologie oder mit ethnographischen Sammlungen zu beschäftigen. Vor allem die Zoologie hat es ihm angetan. Hier gibt er ganz konkrete Hinweise, wie größere und kleinere Tiere präpariert werden sollten (mit Arsenikseife oder arsenhaltigem Natron, kleinere Tiere können auch in Formalin oder Spiritus eingelegt werden). Die Anlegung ethnographischer Sammlungen wird als „verhältnismäßig leicht“ beschrieben. Wichtig sei lediglich, dass bei „jedem Stück […] Bemerkungen über Herkunft, Fundort, und Material“ (S. 191) notiert werden sollten.

Hinsichtlich der wissenschaftlichen Hilfsarbeit erhalten auch die Einheimischen eine weitere Rolle: sie sind in diesem Kontext Objekte der Forschung, die im Dienste der Wissenschaft (und zum Zeitvertreib der Kolonisatoren) fotografiert, vermessen und befragt werden: „Außer der ganzen, möglichst unbekleideten Figur von vorn, nehme man auch die Seitenansicht des Menschen auf und, wenn genügend Material vorhanden ist, die Rückseite“ (S. 192).