Kolonialismus im Bücherschrank

21.04.2023 Marcel Brüntrup

Christiane Cantauw

In vielen Bücherschränken finden sich bei näherem Hinsehen Publikationen aus und über die Kolonialzeit. Das hat sich auch im Zuge eines Aufrufs bestätigt, den die Kommission Alltagskulturforschung gemeinsam mit dem Westfälischen Heimatbund (WHB) 2022 zum Thema „Kolonialismus vom Dachboden: Beute, Andenken, Geschenke“ veröffentlicht hat. Neben vielem anderen fand sich in den westfälisch-lippischen Privathaushalten auch eine Reihe von Veröffentlichungen, die noch aus der deutschen Kolonialzeit stammen. 

Ein Buch soll im Folgenden vorgestellt werden. Es fand sich neben elf weiteren Publikationen im Bücherschrank des Vaters der Schwestern Ulrike B. und Sabine T.

Das Buch „Deutschlands Kolonien“ von Willy Scheel erschien 1912 in einer Auflage von 400.000 Exemplaren und sollte über Text und Bild vor allem die nachwachsende Generation für die koloniale Sache begeistern. (Foto: Archiv für Alltagskultur)

Soweit sich die Geschwister erinnern, hatte sich ihr Vater Arthur P. (1922 – 1986) Zeit seines Lebens sehr für die Kolonien interessiert. Als Junge habe er es in Erwägung gezogen, nach Übersee auszuwandern. Dazu ist es nicht gekommen – nicht zuletzt auch deshalb, weil Deutschland seine Kolonien 1919 infolge des Versailler Vertrags abgeben musste. Das Fernweh von Arthur P. blieb bestehen, fand seinen Niederschlag nun in einschlägiger Lektüre, für die er sich auch aus dem Bücherschrank seines Vaters, Karl P. (1894 – 1958) bediente. Dementsprechend fanden sich in seinem Besitz aus den Jahren 1912 bis 1984  Autobiografien, etwa die des „Seeteufels“ Felix Graf von Luckner: Vom Schiffsjungen zum Kapitän, Leipzig 1921 oder der Bericht über eine Missionsfamilie in Nord-China in der Verfolgungszeit im Jahr 1900 von C. H. S. Green: Oftmals im Tode, Barmen 1914, Romane wie der reich bebilderte von Alfred Funke: Schwarz-weiss-rot über Ostafrika, Hannover 1933, Sachbücher, zum Beispiel das Buch von Gustav Adolf Gedat: Was wird aus diesem Afrika? Erlebter Kampf um einen Erdteil, 2. Aufl., Stuttgart 1938 und Ratgeber wie der von dem langjährigen Dozenten an der Deutschen Kolonialschule Adolf von Duisburg: Wer will in die Kolonien? Ein Wegweiser zur kolonialen Arbeit, Berlin 1938.

Das älteste Buch der Sammlung wurde von dem Pädagogen, Philologen und Schulbuchautor Dr. Willy Scheel (1869 – 1929) verfasst und ist übertitelt mit „Deutschlands Kolonien in achtzig farbenphotographischen Abbildungen nach eigenen Naturaufnahmen von Dr. R. Lohmeyer, Kunstmaler Br. Marquardt und Photochemiker Ed. Kiewning“. Erschienen ist das vorliegende Exemplar 1912 in der Verlagsanstalt für Farbenphotographie Weller & Hüttich in Berlin. Zu diesem Zeitpunkt war Willy Scheel Direktor des Realgymnasiums in Nowawes, einem Ort, der im Zuge der friderizianischen Kolonisation ab Mitte des 18. Jahrhunderts östlich von Potsdam für böhmische Glaubensflüchtlinge angelegt wurde.

Die Widmung auf dem Frontispiz belegt, dass der damals 18jährige Karl P. das Buch bei einem offiziellen Anlass, vermutlich zur Feier seines Schulabschlusses, erhalten hat. (Fotos: Archiv für Alltagskultur)

Laut Widmung auf dem Frontispiz hat Karl P. das Buch am 29. März 1912 in „Anerkennung seines guten [infolge einer Beschädigung nicht lesbar, C.C.] und Fleißes“ als „Ehrengabe“ erhalten. Eingerissene Seiten und zahlreiche Versuche, die lädierte Klammerbindung mit Klebestreifen zusammenzuhalten, zeugen von dem Interesse, das dem 160 Seiten umfassenden Druckwerk entgegengebracht wurde. Vom Frontispiz fehlt die rechte obere Ecke, die irgendwann gestempelt worden war. Von dem Stempel sind nur noch die Wortfetzen „Gewerb“ und „Schwe“ zu lesen. Letzteres verweist auf Schwerte, den Wohnort von Karl P., ersteres lässt sich vermutlich zu „Gewerbe“ ergänzen, ohne zu wissen, ob das an dieser Stelle nur ein Wortbestandteil gewesen ist.

Beschädigungen und mannigfaltige Versuche sie zu reparieren, zeugen von dem großen Interesse, das der Publikation im Hause P. entgegengebracht wurde. (Fotos: Archiv für Alltagskultur)

Die Zielsetzung der Publikation, deren Auflage mit 40.000 Exemplaren bemerkenswert hoch ist, wird im Vorwort von Willy Scheel folgendermaßen beschrieben: „Wenn dieses Werk, dessen Preis in dankenswerter Weise vom Verlage auf das Niedrigste bemessen ist, dazu beitragen würde, die Vorstellungen und Kenntnisse von unseren Kolonien zu erweitern, die Anschauungen von Land und Volk zu vertiefen und durch das farbige Bild anschaulich zu gestalten, wenn dadurch dann das Interesse für das überseeische Deutschland sich immer mehr ausbreitete und bei unserer Jugend besonders sich in tätige Mitwirkung und Mitarbeit auf dem Gebiete deutscher Kolonisation umsetzte: dann hätte es seinen Zweck erfüllt“ (S. IV).

Der Autor hat das Buch in acht Kapitel unterteilt, in denen der deutsche Kolonialbesitz von Togo über Kamerun, Deutsch-Südwestafrika, Deutsch-Ostafrika, Deutsch-Neu-Guinea, das deutsche Inselgebiet im Stillen Ozean und Samoa bis hin zum „deutsche[n] Kiautschougebiet“ (in China) vorgestellt wird. Für die einzelnen Kapitel trug Willy Scheel aus Sekundärliteratur Informationen über die Historie der jeweiligen Kolonie (beginnend mit ersten Aktivitäten deutscher Siedler, Missionare oder Kaufleute), über die naturräumlichen Gegebenheiten, die Flora (seltener über die Fauna) sowie die einheimische Bevölkerung und ihre Wirtschafts- und Lebensweise zusammen. Auch Religion, Transport und Verkehr, Mission und die Einflüsse der deutschen Kolonialverwaltung werden angesprochen.

Willy Scheel sah es als seinen Auftrag, breite Bevölkerungskreise in Deutschland und vor allem die heranwachsende Jugend mit Informationen über „Land und Volk in den deutschen Schutzgebieten“ (S. III) zu versorgen. Dies schien ihm erforderlich, weil „Deutschland seinen Platz im Rate der Völker, seine Stellung in Europa und in der Entwicklung des Welthandels nur dann behaupten kann, wenn die deutsche Kolonisation mit der Entwicklung des deutschen Handels Schritt hält und ihm die Wege ebnet“ (S. III).

Die 1912 höchst innovativen Farbfotografien zeigen Landschaften, Einheimische, lokale und koloniale Architektur und Infrastruktur (Brücken, Eisenbahnlinien) sowie koloniale Truppen.
Die 1912 höchst innovativen Farbfotografien zeigen Landschaften, Einheimische, lokale und koloniale Architektur und Infrastruktur (Brücken, Eisenbahnlinien) sowie koloniale Truppen.

Berühmtheit und Verbreitung fand Willy Scheels Veröffentlichung aber nicht so sehr wegen ihres Textes als vielmehr wegen der 80 „farbenphotographischen Abbildungen“ (vgl. Titel). Diese Abbildungen waren 1912 durchaus eine Sensation, steckten die Farbfotografie und der Farbdruck zu dieser Zeit noch in den Kinderschuhen: Adolf Miethe (1862 – 1927), Professor für Photochemie, Photographie und Spektralanalyse an der Königlich Technischen Hochschule zu Berlin mit Sitz im damals noch eigenständigen Charlottenburg, hatte sowohl ein fotografisches Dreifarbenverfahren als auch ein entsprechendes Druckverfahren entwickelt. Diese foto- und drucktechnischen Neuerungen ermöglichten 1909 die Drucklegung eines kostspieligen Prachtbandes mit dem Titel „Die Deutschen Kolonien“ – Buchhandelspreis: 200 Mark. Die 250 Fotografien in dieser umfangreichen Publikation, die Curd Schwabe (1866 – 1926) edierte, stammen von Eduard Kiewning (1843 – 1937), Robert Lohmeyer (1879 – 1959) und Bruno Marquardt (1878 – 1916). Sie wurden mit der entsprechenden Technik ausgestattet in die deutschen Überseegebiete geschickt, um die erlahmende Begeisterung für die Kolonien durch bis dato noch nicht dagewesene visuelle Eindrücke zu beleben. Der Erfolg gab dem mit verausgabten 300.000 Mark überaus kostspieligen Unternehmen Recht: Die ersten Farbbilder aus den Kolonien wurden vom deutschen Publikum und von der Presse begeistert aufgenommen und fanden in der Folgezeit auch in weiteren preisgünstigeren Publikationen Verwendung.

Zu diesen gehört das Buch von Willy Scheel, das mit einem Buchhandelspreis von 3,50 Mark auch für ein breiteres Publikum zugänglich war und sich expliziert an die Schuljugend wandte. Ebenso wie in dem Prachtband „Die deutschen Kolonien“ stehen auch hier Text und Abbildungen in eher losem Zusammenhang. Die acht Kapitel sind ähnlich aufgebaut: Scheel beginnt stets mit der Geschichte der deutschen Kolonisation und leitet dann über zu den naturräumlichen Gegebenheiten (Geografie, Geologie). Auf die Beschreibung der einheimischen Bevölkerungsgruppen folgt dann eine Einschätzung der Aufgaben und Ziele der deutschen Kolonisation: „Daß sich das Land [gemeint ist „Deutsch-Neu-Guinea“, C.C.] für größere kaufmännische und landwirtschaftliche Unternehmungen von Europäern eignet, kann nach den bisherigen Erfahrungen bejaht werden“ (S.135). Die Abbildungen – etwa im Kapitel „Deutsch-Neu-Guinea“ – zeigen dazu eine „Partie aus dem Urwald“ mit üppiger Flora, zwei Ganzkörperportraits jeweils eines „Papua im Tanzschmuck“ und das Brustbild eines „Admiralitätsinsulaner[s]“.

Durch diese Form der textlichen und visuellen Darstellung entsteht der Eindruck, dass die Geschichte des jeweiligen Landes erst mit der deutschen Kolonisation begonnen hat. Die Einheimischen wurden vor allem nach Nützlichkeitserwägungen aus der Warte der Kolonisatoren beurteilt: „Aus dem Gesagten dürfte klar sei, daß es noch eine geraume Zeit dauern wird, bis der eigeborene Papua oder Melanesier sich zu einem nützlichen Gliede deutscher Kolonisation entwickelt hat“ (S.135). Visuell wird das Gesagte unterstrichen durch Fotografien, die Landschaften, Einheimische, lokale und koloniale Architektur und Infrastruktur (Brücken, Eisenbahnlinien) sowie koloniale Truppen zeigen – vermeintlich augenfällige Belege für das segensreiche und kultivierende Wirken der Kolonialherren und für die Unzivilisiertheit der einheimischen Bevölkerung, die teils unbekleidet gezeigt wird und deren einfache Behausungen mit den repräsentativen Kolonialbauten kontrastieren.

Dies alles ist in der Publikation gepaart mit einem fast schon naiven Paternalismus, der aus der Gewissheit heraus argumentiert, dass es gelingen werde, die einzelnen Länder und Regionen militärisch zu sichern, verkehrstechnisch zu erschließen und ihre Bewohner und Bewohnerinnen durch Mission, Schule und medizinische Versorgung „an die Wohltaten der deutschen Herrschaft [zu] gewöhnen“ (S.90).

Quellen und Literatur:

Jens Jäger: Die Kolonien in Farbe. Ein farbfotografisches Großprojekt im späten Deutschen Kaiserreich. In: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, Heft 163, 2022, Jg. 42, S. 31-42.

Willy Scheel: Deutschlands Kolonien in achtzig farbenphotographischen Abbildungen. Berlin 1912.