Von Todesvorzeichen und Nachzehrern

27.10.2020 Kathrin Schulte

Die Antwortkarten des Atlas der deutschen Volkskunde (ADV) befinden sich unter anderem in den Magazinräumen des Archivs für Alltagskultur.

Von Todesvorzeichen und Nachzehrern

Kathrin Schulte

Die Tage werden kürzer, die Nächte länger – Angaben darüber, was sich in der Dunkelheit verbirgt, finden sich im Archiv für Alltagskultur zuhauf. Einerseits ist da die Motivkartei Märchen und Sagen, eine sich auf Westfalen beziehende Teilsammlung des Zentralarchivs der deutschen Volkserzählung, die zahlreiche Sagen über unheimliche Begegnungen und gruselige Gestalten wie Gespenster, Irrlichter und ähnliches beinhaltet. Dann gibt es die Fragelisten 16 (Sagen von gespenstischen Erscheinungen) und 23 (Zweites Gesicht), via derer sich die Gewährsleute zu vermeintlichen Erscheinungen von Werwölfen, dem Teufel oder anderen Gestalten äußerten oder zu Personen mit der vermeintlichen Gabe, zukünftige Ereignisse vorherzusehen.

Eine weitere Quelle für entsprechende Geschichten ist der Atlas der deutschen Volkskunde (ADV). Das Projekt begann 1928, ab 1930 wurden die ersten Fragekarten an Gewährsleute gesendet. Da pro Ort nur eine Gewährsperson befragt wurde, stellen die Einsendungen eine diesbezüglich wenig differenzierte Quelle dar. Die ersten sechs Lieferungen der Karten, auf denen die eingesendeten Fragekarten visualisiert wurden, wurden bis 1939 gedruckt. Auch versuchten die Nationalsozialisten, den ADV für sich zu vereinnahmen, allerdings erfolgten keine Publikationen.

Die Themen, die im Rahmen der Erstellung des ADV abgefragt wurden, umfassen zahlreiche Elemente der Alltagskultur, neben der Bezeichnung für den Weihnachtsbaum wurde nach verschiedenen Ess- und Trinkgewohnheiten gefragt, nach Feiertagen, nach alltäglichem – hierzu gehört auch der Aberglaube. Und diese Motive, die später auch Einzug in den ein oder anderen Gruselfilm hielten, sind in den Fragekarten des ADV zuhauf zu finden. Es geht um Hexen, um Aufhocker, um das Zweite Gesicht, um das Besprechen von Krankheiten, Todesboten und so weiter.

Um das Thema etwas einzugrenzen, soll es hier nun um die Frage 170 gehen:

„170. a) Glaubt man, daß gewisse Tote vom Grabe aus Lebende nachholen? Was sagt man in diesem Falle? (z.B. er zehrt nach)

b) Wie nennt man einen solchen Toten?

c) Was tut man, um zu verhindern, daß dieser Tote Lebende nachholt?

d) Welche Anzeichen beim Toten oder welche Vorfälle bei Tod und Begräbnis deuten darauf hin, daß ein Familienmitglied oder sonst jemand bald nachsterben wird?“

Beginnen wir mit der Frage 170. d), die sich mit dem Tod und der Beerdigung befasst, chronologisch am Beginn der Aktivitäten des Toten steht. Auf den Karten des ADV finden sich zahlreiche Vorzeichen, ein verbreitetes Vorzeichen ist zum Beispiel das Schlagen der Kirchuhr während des Trauergeläuts, während des Gottesdienstes oder der Gebete, aber auch der Klang der Glocken stellt ein Vorzeichen dar (falls sie hell, traurig oder nachklingen). Hinzu kommen ins Grab fallender Regen oder Erde, außerdem klopfende oder polternde Geräusche aus selbigem oder das Hängenbleiben von Sarggurten. Auch der Leichenzug ist Teil der Todesvorzeichen: kommt der Leichenzug ins Stocken, stolpert jemand, schaut sich um – all dies gilt auch für die Pferde, außerdem werden das Aufbäumen der Tiere oder das Pferd, das durch ein Fenster eine Person anschaut, als Antworten auf die Frage 170. d) genannt.

Die Vorzeichen variieren je nach Region, aber ihnen ist gemein, dass es sich um Begebenheiten handelt, die sich auf Beerdigungen nicht unbedingt selten ereignen, so zum Beispiel das Stocken eines Leichenzuges oder jemand in diesem Zug, der oder die sich umschaut. Auch bewahrheiten sich die Vorzeichen in der Regel – gestorben wird schließlich immer, irgendein Gast der Beerdigung wird zwangsläufig der oder die nächste Tote sein.

Doch wie hält es sich mit den Toten, die keine Ruhe finden und Lebende nachholen? Hier kommen nun die Teilfragen 170. a) bis c) ins Spiel. Ein Nachzehrer mag zunächst an einen Vampir erinnern, allerdings verhält ersterer sich passiver. Während der Vampir des Nachts aus dem Grab klettert und Unheil bringt, entzieht der Nachzehrer in der Regel vom Grab aus die Lebenskraft. Es soll jedoch auch vereinzelt Fälle von Toten gegeben haben, die in ihren Särgen sitzend gefunden wurden oder gar ihren Sarg verlassen hatten und auf den Kirchturm gestiegen waren – dort läuteten sie die Glocken und alle, die der Schall der Glocken erreichte, starben. Die Karten des ADV weisen die Nutzung bestimmter Bezeichnungen für nachzehrende Tote vor allem westlich der Danziger Bucht hin, hier vor allem die Bezeichnung Un(ge)heuer, Nachheuer, Gier(sch)/gieriger Mensch und Nimmersatt/Nimmerdick sowie Neuntöter. Das lässt darauf schließen, dass der Aberglaube dort bekannt war. Auch in der Gegend um Hannover, Braunschweig und Salzwedel sind spezielle Bezeichnungen, nämlich Doppel- bzw. Zweisäuger und Nachzehrer, verbreitet, ebenso vereinzelt in der Gegend Kassels.

Die ADV-Karte zu der Verbreitung der Begriffe, die synonym für Nachzehrer genutzt wurden. Hier zeigt sich eine Häufung verschiedener Begriffe im Raum um die Danziger Bucht. Foto: Schulte/LWL.

Nicht nur im Rahmen des ADV tauchen die Nachzehrer auf, sondern auch in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Schriftquellen – hier stehen die Fälle von Nachzehrern meist in Verbindung mit Seuchen. So ist es möglich, die große Zahl Verstorbener zu erklären. Auch gibt es bereits frühe Anzeichen, dass sich Personen zum Nachzehrer entwickeln: Dies wird zum Beispiel Kindern nachgesagt, die mit Zähnen geboren wurden oder nach dem Abstillen erneut an die Brust genommen wurden. Nach dem Tod deutete eine ausbleibende Leichenstarre oder ein rosiges Aussehen auf eine potenziell nachzehrende Leiche hin.

Um deren Nachzehren zu verhindern, ist es notwendig, darauf zu achten, dass die Leiche keine Textilien, keine Gliedmaßen oder sonstiges vor dem Mund hat, da sie sonst ausgegraben und am Fressen gehindert werden müsse. Ein Nachzehren könne auch durch ein Stück Rasen oder ein Gesangsbuch unter dem Mund, Münzen im Mund bzw. zwischen den Zähnen, das Umdrehen des Toten oder dessen Enthauptung verhindert werden. Auch hilft es, die Person im Sarg zu beschäftigen, weshalb Fischernetze in den Sarg gegeben wurden (der oder die Tote muss einen Knoten pro Jahr lösen), ebenso wie Mohnkörner (die gezählt werden müssen) oder ein Lied ohne Anfang und Ende. Sollte die Person dann doch andere Menschen nachholen, hilft nur noch die Enthauptung der Leiche. Diese lässt sich auch, vor allem in Osteuropa, archäologisch nachweisen. Auch sollten große Steine helfen, die Toten in ihrem Grab zu halten – hier scheint der auch in Westfalen nachgewiesene Aberglaube jedoch über Nachzehrer hinaus zu gehen, man rechnete mit aktiveren Toten.

Nachzehrer werden wohl in der Regel nicht zu den Gestalten gehören, die beim nächtlichen Spaziergang im Gebüsch lauern könnten – aber macht sie das nicht fast noch etwas unheimlicher?

 

Literatur:

Schürmann, Thomas: Gestalten des nachholenden Toten in Mitteleuropa, in: Jan Carstensen (Hrsg.), „Verflixt!“. Geister, Hexen und Dämonen. Münster 2013.

Grober-Glück, Gerda: Todesvorzeichen beim Begräbnis. Ein Beitrag für einen „Atlas zur deutschen Volkskultur“, in: RWZ, Bd. XLIII, 1998, S. 57 – 65.