Der „Jahrhundertwinter“ 1929

17.12.2019

Architekt Hans Lühn aus Lingen mit seinem Auto auf der zugefrorenen Ems 1929. Foto: Emslandmuseum Lingen.

Der „Jahrhundertwinter“ 1929

Andreas Eiynck

Auch schon vor den Zeiten des Klimawandels wurde gerne darauf verwiesen, dass die Winter früher viel kälter waren und reichlich Schnee brachten. Weihnachten lag ja früher angeblich immer Schnee – jedenfalls, wenn man Bilderbüchern, Ansichtskarten und den Erinnerungen der damaligen Kinder glauben möchte. Tatsächlich gab es genau wie Rekordsommer und Jahrhunderthochwasser immer wieder auch extrem kalte Winter, in denen selbst die Flüsse wochenlang zugefroren waren.

Einer dieser Rekordwinter ereignete sich 1928/1929. Wochenlang verzeichnete man Temperaturen von 28 bis 29 Grad unter Null. Es war einer der strengsten Winter des 20. Jahrhunderts, als selbst die Ems über Wochen mit einer dicken Eisschicht bedeckt war und die Emswehre zu Eis erstarrten.

Ein Zeitzeuge aus Meppen notierte: „Am Rosenmontag Mitte Februar zeigte das Thermometer den Rekordwert von minus 30 Grad. Nur die wichtigsten Dinge wurden draußen erledigt. Wer damals schon ein Auto besaß, musste in diesem Winter trotzdem häufig mit dem Fahrrad fahren, denn Frostschutz für das Auto gab es noch nicht. Das Kühlwasser musste nachts abgeladen werden oder der Motor wurde nachts mehrfach angelassen und warm gemacht.

Ansonsten lief alles zu Fuß. Dick vermummt, Schals um den Kopf gewickelt zum Schutz der Ohren, die Hände tief in den Taschen vergraben. Ein Problem war das Heizmaterial. Heizung wie jetzt gab es in Privathaushalten nicht. In den alten Häusern auf dem Lande wurde, falls vorhanden, außer der Küche noch ein kleines Zimmer geheizt, wo sich die alten Leute und die Kinder aufhielten. Als Heizmaterial dienten selbstgetrockneter Torf und Holz. In den größeren Bauernküchen stand auch noch der Futterkessel fürs Vieh, der gleichzeitig als zusätzlicher Wärmespeicher diente.

Zu den materiellen Sorgen kamen noch die familiären. Die Grippe hauste damals ziemlich stark. Die ärztliche Versorgung war schlecht. Und die Kosten spielten eine große Rolle. Die Todesfälle im Winter 1928/29 waren so hoch wie sonst in zehn Jahren zusammen. In manchen Familien gab es zwei, ja sogar drei Todesfälle.

Die Chronik des Hofes Brinker in Hummeldorf schildert den Winter 1929 in diesem Haus. Foto: Emslandmuseum Lingen.

Heute kaum vorstellbar ist, wie kalt es damals in den alten Häusern war. In den Schlafräumen waren die Außenwände mit einer dicken Eisschicht überzogen. Wie alles, so hatte auch der Winter 1928/29 ein Ende. Die Folgen sahen die Bauern erst später. Beim Öffnen der Mieten sah man, was der Frost angerichtet hatte. Bis zu 50 Prozent der Kartoffeln waren erfroren. Aber auch damit ist man fertig geworden.“

Wie es in diesem Jahrhundertwinter auf einem Bauernhof in der Landwirtschaft und im Haushalt zuging, schildert ein Zeitzeugenbericht in der umfangreichen Hofchronik Brinker aus der Salzbergener Bauerschaft Hummeldorf, gelegen vor den Toren von Rheine. Das darin beschriebene Bauernhaus war im Wirtschaftsteil noch aus Fachwerk gebaut und hatte am Stallende nur einen Brettergiebel. Der Wohnteil war 1901 in Backstein erneuert und ausgebaut worden. 1929 hatte das Haus noch eine große Küche mit einer Tür zur Diele und einem Durchgang zur Futterküche am Schweinestall. Die Schlafräume im „Kammerfach“ waren alle nicht beheizbar, nur die „Alltagsstube“, das Wohnzimmer, hatte einen Ofen. Ein Badezimmer besaß das Haus erst ab 1933. Die Chronik berichtet:

„Im Jahre 1929 war ein furchtbar kalter Winter. Vielen Leuten sind auf dem Kirchweg die Ohren angefroren. Im Hauskeller wurden Eimer mit glühenden Kohlen aus dem Futterkessel aufgestellt, so dass unsere Kartoffeln im Keller nicht angefroren waren. Die Kellerfenster waren draußen mit dickem Mist verschlossen. Heizung hatte man noch nicht, die haben wir erst 1962 machen lassen. Im Wohnzimmer war es immer sehr warm. Die Schlafzimmer waren alle kalt. Arbeitsmäßig war es ein sehr schwerer Winter. Bernd Meiners, Ludger Perick, Maria Kittel und Mia Temmen waren zu der Zeit bei uns, so dass wir sonst die Arbeit gut schaffen konnten. Aber in der schlimmen Zeit der großen Kälte musste Maria Kittel ein Vierteljahr nach Hause, weil ihre Schwester in die Augenklinik musste und die Mutter kränklich war. Bernd Meiners wurde krank und musste nach Münster in die Klinik.

Die Schlossmühle in Burgsteinfurt im Februar 1929. Foto: Emslandmuseum Lingen.

Ludger Perick alberte mit den Kälbern und wurde dabei von ihnen verletzt, so dass er nicht alle Arbeiten verrichten konnte, aber immerhin noch helfen. Mia Temmen war noch jung und konnte höchstens drei Kühe melken. Die beiden besten Arbeitskräfte fehlten. Oma lag krank zu Bett, Agnes, ein halbes Jahr alt, im Kinderwagen. Es war eine schlimme Zeit. Jede Woche einmal wurde morgens gedroschen mit dem Breitdrescher. Zum Dreschen wollte Vater keinen Dampfdrescher nehmen, das Geld können wir sparen, sagte er. Aber der Arbeitstag war sehr lang. Dann stand Vater schon um 4 Uhr morgens auf, ich um 5 Uhr, wie gewöhnlich. Erst melken, Oma versorgen, dreschen, sonst Stroh binden mit 2 Mann, jetzt allein. Dann Schweine füttern und dazu das ständige Futter auftauen im Viehkessel und Holz anschleppen.

Im Schweinestall wurden Bretter über die Ställe gelegt und mit Strohbunden zugedeckt. Wir hatten Verluste bei den Ferkeln und später gab es gute Ferkelpreise, weil viele Ferkel verendet waren und sie im Frühjahr und Sommer knapp waren. Als Maria Kittel und Bernd Meiners wiederkamen, wurde es doch bedeutend besser. Elektrizität kam erst um 1930 in Hummeldorf. Welche Erleichterung, als wir das Butterfass elektrisch anstellen konnten! Und vieles andere!“

Im Lingener Raum bescherten diese Kältewellen neben den damit verbundenen Unannehmlichkeiten auch ein besonderes Freizeitvergnügen: Auf dem zugefrorenen Haneken-Kanal und später auf dem Dortmund-Ems-Kanal konnte man mit Schlittschuhen über das Eis nach Hanekenfähr zu Wasserfall gleiten. Die dortige Gaststätte „Zur schönen Aussicht“ machte in den Lingener Tageszeitungen mit Inseraten auf diese Möglichkeit aufmerksam. Dort hieß es: „Die Eisbahn nach Haneken ist gefegt!“ Dort in Hanekenfähr konnte man im Winter 1928/29 wochenlang ein zugefrorenes Emswehr mit einem zu Eissäulen erstarrten Wasserfall besichtigen. Und ganz Mutige wagten sich sogar mit ihrem Auto auf das Eis der Ems.