Mit dem Heimatverein ans Nordmeer. Fahrten der Heimatvereine des Tecklenburger Landes auf die ostfriesischen Inseln.

07.05.2024 Marcel Brüntrup

Mit dem Schiff auf die Insel, 1923, Archiv des Kultur- und Heimatvereins Westerkappeln e.V.

Peter Herschlein

Im vergangenem Jahr sind auf diesem Blog die Westerkappelner Heimatjahrbücher vorgestellt worden. In mehreren dicken Alben trug der Westerkappelner Lehrer Friedrich Rohlmann zwischen 1922 und 1939 eine Menge an Material wie Zeitungsartikel, Fotos, Eintrittskarten oder Prospekte zusammen. Rohlmann engagierte sich vielfältig im Heimat- und Schützenwesen und brachte auch die Bemühungen um die Gründung eines Heimatvereins in Westerkappeln maßgeblich voran. Im Jahr 1919 wurde dieser als „Verein für Heimatkunde Westercappeln“ als erster Heimatverein im Altkreis Tecklenburg gegründet. In den nächsten Jahren entstanden dann auch in vielen weiteren Gemeinden in der Umgebung Heimatvereine. So wurden ab 1922 die Heimatvereine in Mettingen, Recke, Ibbenbüren und Tecklenburg gegründet und nach 1924 weitere Vereine in Lengerich, Riesenbeck und Hopsten.

Die von Rohlmann in den Heimatjahrbüchern zusammengetragenen Dokumente ermöglichen es, einen umfassenden Eindruck über die von den Heimatvereinen durchgeführten Veranstaltungen zu gewinnen, in deren Zentrum  die unmittelbare Umgebung bzw. den Altkreis Tecklenburg stand.  Hier wollte sich der Heimatverein als Anbieter von  Jugendwanderungen, geologischen Führungen, Besuchen von Festspielen oder Liederabenden profilieren. In den Jahren 1921 und 1922 wurden zudem zwei Heimattage mit einem umfassenden Begleitprogramm durchgeführt.

Fotos, die außerhalb des Tecklenburger Landes aufgenommen wurden, gibt es in den Alben nur wenige. Daher fallen sie sowie einige Zeitungsartikel aus dem „Tecklenburger Kreisblatt“, die von zwei Fahrten an das „Nordmeer“ berichten, sofort ins Auge. Diese Reisen wurden in den Jahren 1922 und 1923 für die Mitglieder der Heimatvereine des Altkreises Tecklenburg veranstaltet. Auch bei diesen Aktivitäten lässt sich Friedrich Rohlmann als treibende Kraft und Organisator der Fahrten fassen. Einige Informationen über den Ablauf der Reisen lassen sich aus den beigefügten Zeitungsartikeln entnehmen.

Auf dem Dampfer nach Juist, 1922, Archiv des Kultur- und Heimatvereins Westerkappeln e. V.

Dem Aufruf für die erste Fahrt, die auf die Nordseeinsel Juist führte, folgten rund 600 reisewillige Personen, womit die Teilnehmerliste schon frühzeitig geschlossen werden musste. Von Ibbenbüren aus führte die Fahrt mit einem Sonderzug nach Norddeich, von dort erfolgte dann die Überfahrt mit zwei bereitgestellten Dampfern auf die Insel. Neben verschiedenen Besichtigungen, wie die der Funkstation in Norddeich oder der Vogelkolonie, stand vor allem der Strandbesuch im Vordergrund, der für viele Reisende wohl die Hauptattraktion gewesen sein dürfte. . In einem der Zeitungsartikel ist zu lesen, dass von den rund 600 Teilnehmenden rund 500 Personen zum ersten Mal das Meer gesehen hatten. Nachdem der Zug am Sonntagmorgen um 7:30 Uhr in Ibbenbüren abgefahren war, kamen die Teilnehmenden am Montagabend gegen 20 Uhr wieder in Ibbenbüren an. Friedrich Rohlmann schreibt in einem Zeitungsartikel über die Fahrt: „ein schöner, wenn auch kurzer Traum, ein kurzes Entfliehen aus Alltagsschwere und Alltagsnot, Stunden der Freude und erhebender Schönheit, aus denen die Teilnehmer Mut und Kraft schöpfen und Sonnenfunken hinüberleuchten lassen werden, in die Werktagsarbeit“.

Teilnehmer der Fahrt nach Wangerooge, 1923, Archiv des Kultur- und Heimatvereins Westerkappeln e. V.

Nachdem die erste Fahrt 1922 nach Juist also erfolgreich verlaufen war, organisierte der Heimatverein auch für das darauffolgende Jahr eine mehrtägige Fahrt. Diesmal führte die Reise auf die Insel Wangerooge. Auch bei dieser Fahrt war der organisatorische Aufwand recht hoch: Die Fahrkarten wurden einen Tag vor der Abreise ausgegeben, wobei die einzelnen Orte Vertrauensleute schickten, die sämtliche Karten für eine Ortschaft in Empfang nahmen. Mit dem Sonderzug ging es dann über Osnabrück-Eversburg, wo die Teilnehmer aus Recke, Mettingen und Westerkappeln zusteigen konnten, nach Carolinensiel. Nach der Überfahrt mit dem Schiff sollten die Teilnehmenden mit der Inselbahn bis in das Dorf befördert werden. Die beschränkte Anzahl an Plätzen in der Bahn erforderte es aber die Gruppe zu teilen: Inhaber der Karten 1 bis 300 wurden als erste befördert, die restliche Gruppe in einem nachfolgenden Zug. Alle Teilnehmenden wurden angewiesen „jegliches Gedränge“ zu vermeiden.

Wie bereits oben angeführt, fallen die beiden Fahrten in die Anfangsjahre der Heimatvereine im Altkreis Tecklenburg. Sie liegen damit in einer Zeit, in der die Menschen im Kontext der Industrialisierung und Urbanisierung mit tiefgreifenden Veränderungen ihres Alltags und ihrer Umwelt konfrontiert waren. Diese Entwicklungen wurden von Teilen der Bevölkerung als negativ empfunden und führten zu einem Gefühl der „Entwurzelung“ bzw. wurden als Verlust kultureller bzw. nationaler Identität aufgefasst. Zivilisationskritische Reformbewegungen, wozu auch die Heimatbewegung zählte, boten hier Gegenentwürfe. Im ländlich geprägten Tecklenburger Land spiegelte sich diese Bewegung in der Gründung zahlreicher lokal arbeitender Heimatvereine wieder. Diese Vereinigungen beschäftigten sich mit dem Bewahren von materiellen Dingen, schriftlichen und mündlichen Überlieferungen oder auch mit der Verschönerung des Orts- und Landschaftsbildes. Auf dem zweiten Heimattag 1922 in Westerkappeln führte Sanitätsrat Dr. Simon zu den Zielen der Heimatbewegung im Tecklenburger Land aus: „Die Aufgabe, die unsere Heimatvereine sich gestellt haben, ist die Erforschung unserer Heimat in ihrer natürlichen Entwicklung, das Ziel, das wir erstreben, ist die Erweckung und Förderung der Liebe zur Heimat und zu unserem Vaterlande.“

Velper am Strand auf Wangerooge, Archiv des Kultur- und Heimatvereins Westerkappeln e. V.

Durch die Fahrten an die Nordsee steigerte sich der Bekanntheitsgrad der Heimatvereine, wobei es Friedrich Rohlmann in diesem Zusammenhang wichtig war, dass die eigentlichen Ziele der Heimatbewegung dadurch nicht aus dem Blick gerieten. Denn statt Strandbesuch und Erholung stand für ihn die Bindung an die Heimat im Vordergrund, die er sich von dem gemeinsamen Erlebnis erhoffte: So schrieb er in einem Artikel im Tecklenburger Kreisblatt aus dem Jahr 1923, dass die Menschen „Nicht mit in die Reihen treten [sollten], um nächstes Jahr wieder mit ans Nordmeer fahren zu können, sondern mitarbeiten, daß uns ein heimatstarkes, innerlich reiches Geschlecht erwachse, das seines deutschen Vaterlandes würdig ist“. 

Darüber hinaus dürfte Rohlmann mit den Fahrten ein weiteres, ganz bestimmtes Ziel verfolgt haben. Im Januar 1922 kam bei einer Tagung zur Planung des Heimattages die Idee auf, einen Kreisheimatbund Tecklenburg zu gründen. Der Plan zur Gründung einer solchen überörtlichen Vereinigung scheiterte jedoch im Februar 1922 und es kam in der Folgezeit nur zur Gründung einzelner Ortsvereine. Friedrich Rohlmann war jedoch offensichtlich weiterhin sehr daran gelegen, „die Heimatfreunde einander näher zu bringen“. In den Fahrten auf die ostfriesischen Inseln sah Rohlmann eine passende Möglichkeit dazu: „Gemeinsame Erlebnisse knüpften Bande, vereinigten Menschen, die sonst in schier unüberbrückbarem Gegensatz standen“. Die gemeinsamen Fahrten der Heimatvereine an die See können somit als Versuch Rohlmanns gesehen werden, die einzelnen Heimatvereine des Tecklenburger Landes und ihre Mitglieder miteinander zu vernetzen, um in näherer oder fernerer Zukunft doch noch einen überregionalen Zusammenschluss zu erreichen.

Literatur:

Rohlmann, Friedrich: Die Heimatbewegung im Kreise Tecklenburg. Heimatjahrbuch des Kreises Tecklenburg 1923, S. 4.

Rohlmann, Friedrich: Westerkappelner Heimatbücher 1922-1939 (Archiv des Kultur- und Heimatvereins Westerkappeln e. V.).

Ditt, Karl: Die Heimatbewegung Westfalens zwischen Kaiserreich und früher Bundesrepublik 1871-1945. Münsterland, Jahrbuch Kreis Warendorf 2001, S. 295-303.

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