„Reformen kommen, Reformen vergehen…“ Neuerscheinung zum 50. Jubiläum des Kreises Minden-Lübbecke

17.10.2023 Niklas Regenbrecht

Einband der Publikation: Sebastian Schröder: Zusammen(ge)wachsen. 50 Jahre Kreis Minden-Lübbecke (1973-2023).

Niklas Regenbrecht

„Reformen kommen, Reformen vergehen. Der Kreis Lübbecke bleibet bestehen!“ dichtete der Oberkreisdirektor von Lübbecke, Rolf Momburg, 1967 im Zuge der Diskussionen um die kommunale Gebietsreform. Dass er damit auf Dauer falsch liegen sollte, zeigte sich spätestens sechs Jahre später. In den 1960er und 1970er Jahren wurden im Rahmen dieser Reform zahlreiche Kreise in Nordrhein-Westfalen neugegliedert. Häufig handelte es sich dabei um Zusammenlegungen zweier zuvor selbstständiger Kreise. So entstand 1973 auch der Kreis Minden-Lübbecke. Zum 50. Jubiläum hat der Historiker und Mitglied der Kommission Alltagskulturforschung für Westfalen Sebastian Schröder eine Festschrift vorgelegt. Wer nun denkt, Verwaltungsgeschichte und erst recht die Geschichte einer Strukturreform seien eine trockene Angelegenheit, wird hier eines Besseren belehrt.

In über dreißig kurzen Kapiteln aufgeteilt in vier übergeordnete Abschnitte werden verschiedene Aspekte des Lebens in der Region Minden-Lübbecke der 1960er und 1970er Jahre anschaulich dargestellt. Dabei geht es der Themenstellung gemäß um Verwaltungshandeln und das Reformgesetz, aber ebenso um das Alltagsleben der Menschen. 

Im ersten Abschnitt widmet sich Schröder dem Wandel die Lebensverhältnisse in den 1960er und 1970er Jahren in Minden-Lübbecke, mithin der gesellschaftlichen Ausgangslage. Konkret beschäftigt sich der Autor hier etwa mit der „68er-Revolution“, Geschlechterbildern und deren Wandel, dem Fernsehkonsum, der Ölkrise und der „schweinereichen“ Landwirtschaft.

Der gesellschaftliche Wandel betraf auch das Behördenhandeln und -arbeiten. Und das auch ganz praktisch gesehen, wie das Kapitel über den Übergang von der Schreibmaschine zur elektronischen Datenverarbeitung zeigt (S. 37).

Im zweiten Abschnitt steht die kommunale Neugliederung im Mittelpunkt. Es wurden hierbei nicht nur die Kreise Minden und Lübbecke zusammengelegt; die ehemals 50 bzw. 76 Gemeinden in den bisherigen Kreisen bildeten nach Abschluss der Reform nur noch elf Kommunen. Das Ziel der Landesregierung war es, mit der Gesamtreform die Lebensbedingungen von Stadt und Land anzugleichen (S. 29), eine Phrase, die einem aus heutigen politischen Diskussionen vertraut vorkommt. Schröder beleuchtet neben verschiedenen Reformentwürfen und Gutachten auch ausgiebig die Diskussionsprozesse und den teils erbitterten Widerstand gegen diese als Ende der Selbstverwaltung angesehenen Pläne.

Dabei stellt Schröder heraus, dass am Reformbedarf an sich gar nicht gezweifelt wurde. Die Notwendigkeit der Erneuerung der aus dem 19. Jahrhundert herrührenden Gemeinde- und Ämterstruktur wurde allgemein anerkannt. Die konkrete Umsetzung allerdings, darunter vor allem Themen wie künftige Gemeindegrenzen bargen jedoch großes Protestpotenzial. 

Herausstechende Zitate sind dabei im Layout der Publikation auflockernd hervorgehoben. So auch die Worte des bereits eingangs zitierte Oberkreisdirektor Momburg. Hier noch einmal angesichts vorgesehener Mindestgrößen der geplanten neuen Kreise: „Meine persönliche Auffassung geht dahin, daß der Kreis Lübbecke […] wahrscheinlich zum Tode verurteilt wird.“ Von Schröder mit dem Nachsatz versehen: „Zugleich warnte Momberg aber davor, ‚auf die Barrikaden zu steigen‘ und bat darum, ‚die Dinge im Augenblick nicht zu dramatisieren.‘“

Nicht nur Grenzziehungen, auch neue Hoheitszeichen mussten diskutiert werden (S. 66).

Der dritte Abschnitt des Buches beschäftigt sich mit der Frage, was eigentlich die Verwaltung macht. Bereits einleitend plädiert Schröder hier für eine Verwaltungsgeschichte, die „erstaunliche, überraschende und erkenntnisreiche Eindrücke“ (S. 73) bereithält. Wie sich der gesellschaftliche Wandel jener Jahre im Lokalen vollzog, wird deutlich anhand des Behördenhandelns, welches selbst auf den Wandel reagieren musste. Und so wird in diesem Kapitel unter anderem beleuchtet, wie die Gemeindeschwestern durch den Ausbau des Gesundheitswesens langsam verdrängt oder ehrenamtlich als Standesbeamte tätige Friseure durch professionelle Kräfte abgelöst wurden. Ebenso wird die Tätigkeit der „Gemeindebullen“ vorgestellt – der tierischen Zuchtbullen in den Diensten und im Besitz des Kreises. Im darauffolgenden Kapitel stellt Schröder den Umbau der Polizeiorganisation vor. Weitere Themen sind Müllkippen, Wasserversorgung und „Der Traktor als ‚Lebensinhalt‘“, bei dem die Integration der Vertriebenen erläutert wird.

Im vierten und letzten Abschnitt des Buches wird unter der Überschrift „Identität, Heimatgefühl und ehrenamtlicher Einsatz“ das beleuchtet, was in den Augen der Reformgegner als bedroht angesehen wurde. Dabei geht es auch um Vereinsarbeit und die auch noch in der heutigen Kommunikation des Kreises als identitätsstiftend angesehenen Mühlen („Mühlenkreis“) und Störche.

Schröder veranschaulicht, wie Alltagsthemen mit kommunalem Verwaltungshandeln in Beziehung standen und wie sich gesellschaftlicher Wandel in den 1960er und 1970er Jahren vor Ort gestaltete. Ebenso wird gezeigt, was sich alles aus Verwaltungsschriftgut – bisweilen zwischen den Zeilen – über das Leben der Menschen herauslesen lässt. Durch die Konzentration auf kurze, anschauliche Kapitel und kleine Geschichten kann das Buch ein breites Publikum ansprechen. Daher ist die Publikation auch für Leserinnen und Leser außerhalb des Kreises Minden-Lübbecke interessant und verdient es als Vorbild für ähnliche Arbeiten angesehen zu werden.

 

Bibliographische Angaben

Sebastian Schröder: Zusammen(ge)wachsen. 50 Jahre Kreis Minden-Lübbecke (1973-2023), Minden 2023.