Schwerpunkt Fotografie: Das Visitformat popularisiert die Fotografie

09.04.2024 Marcel Brüntrup

Christiane Cantauw

Drei opulente Fotoalben mit einer unterschiedlichen Anzahl an Fotografien, überwiegend im Carte de Visite-Format, erzählen im Archiv für Alltagskultur von einer Idee, die von Frankreich ausgehend seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Welt der Fotografie auf den Kopf stellen sollte. Gemeint ist die Fertigung von Fotografien im nassen Kollodiumverfahren und die Kaschierung der dabei entstandenen Papierfotografien auf kleinen Kartons, die in etwa so groß waren wie die seinerzeit beliebten Visitenkarten.

Die Fotografen W. Welsing und F. Hundt Nachf. aus Münster vermerkten auf der Rückseite ihrer Fotografien, dass die Platte für Nachbestellungen u. Vergrößerungen aufbewahrt werde. (Foto: Cantauw)

Seit Beginn der 1850er Jahren entwickelte sich das sogenannte Visitformat (ca. 9 x 6 cm) zu einem Kassenschlager der Fotoateliers. Dies nicht nur deshalb, weil die Preise im Laufe der Zeit immer erschwinglicher wurden, sondern auch, weil – anders als dies bei den Daguerreotypien der Fall war – die Fotografien durch das neuartige Verfahren keine Einzelstücke mehr waren, sondern bei Bedarf (auch nach Jahren noch) nachbestellt werden konnten. Die Nähe zur Visitenkarte dokumentierte sich anfangs darin, dass die Rückseite der kleinen Trägerkartons frei gelassen wurde für den Namen des/der Abgelichteten und eine kurze Botschaft. Das änderte sich aber im Laufe des 19. Jahrhunderts, weil die Fotografen den Platz zunehmend für Werbebotschaften nutzten.

Die Preise für Fotografien reduzierten sich stetig, so dass kleinere Formate wie die Visitfotografien etwa seit den 1890er Jahren für breite Bevölkerungskreise erschwinglich waren. (Anzeigenwerbung Atelier Adolf Haynn, Bielefeld, Bielefelder Post, 30.5.1891)

Das Visitformat brachte mannigfaltige Standardisierungen mit sich: Weil die Größe der Carte de Visite-Fotografien annähernd feststand, bot der Handel seit den 1860er Jahren Einsteckalben zu ihrer Aufbewahrung und Präsentation an. Sie waren aufwändig gestaltet – mit prunkvollen Einbänden und auch mit metallenen Beschlägen; in die Seiten aus ausgestanztem Karton, den sogenannten Kulissen, und aus Zwischenblättern wurden die Fotografien eingesteckt. Und es entstanden Firmen, die den Fotoateliers zuarbeiteten und die Trägerkartons, auf die die Fotos aufgeklebt wurden, herstellten, beschnitten und bei Bedarf auch bedruckten. Das alles konnte natürlich nur deshalb einträglich sein, weil sich die Carte de Visite-Fotografien im Laufe der 1870er Jahre zu einem Massenmedium entwickelten, das preislich zunehmend auch für Kleinbürgertum, Arbeiterschaft und die Landbevölkerung erschwinglich war. Bestellt wurden die Fotografien im Visitformat im Dutzend oder im halben Dutzend. Diese Anzahl war dem Umstand geschuldet, dass die Fotografen meist ein Mehrfachobjektiv benutzten, durch das mehrere Bilder, nämlich sechs resp. zwölf, auf eine Platte gebracht werden konnten – auch dies trug zur Verbilligung bei. Wie schnell sich die Preise nach unten entwickelten, belegen die Geschäftsanzeigen: 1894 verlangte man für sechs „Visitphotos“ im Atelier Otto Liebert in Lippstadt noch 2,50 Mark; zehn Jahre später wurde das halbe Dutzend im Atelier Germania in Münster bereits für 1,90 Mark angeboten.

Bei näherer Betrachtung der Vorderseiten der Carte de Visite-Fotografien wird schnell deutlich, dass das neue Massenmedium Anleihen bei Gemälden machte: Eine gezeichnete Rahmung und ein schwungvoll geschriebener Namenszug des Urhebers am unteren Bildrand erinnern an die Portraitmalerei. Auch waren die Alben so gestaltet, dass die einzelnen Seiten die Anmutung von Gemäldegalerien hatten.

Die gängigen Einsteckalben versammelten stets mehrere Visitfotografien, ggf. ergänzt durch eine Kabinettaufnahme, auf einer Seite. Die um die Aussparungen für die Fotografien aufgedruckten Rahmen vermittelten den Eindruck einer Gemäldegalerie, Alltagskulturarchiv, Album Stratmann, Inv. Nr. 2012.02229 (Foto: Cantauw)

Die Tatsache, dass die Fotografien stets im (halben oder ganzen) Dutzend produziert wurden, prädestinierte sie geradezu zum Verschenken. Entsprechend finden sich in den Alben (Ganzkörper-)Portraits oder Kniestücke von Familienmitgliedern, Verwandten, Freundeskreis und Bekannten ebenso versammelt wie Aufnahmen bekannter Persönlichkeiten. Letztere sind allerdings in den drei Alben aus dem Alltagskulturarchiv nicht vertreten, dafür aber Aufnahmen, die man von fernen Verwandten und Bekannten aus St. Louis, Bingham (Memphis), Berlin, Hamburg oder Düsseldorf erhalten hatte.

Vielfach nutzten Berufsfotografen Atelierhintergründe und Requisiten, um den Fotografien eine bestimmte Anmutung zu geben. Portraits wurden meist schräg von vorn aufgenommen; oft stützen die Portraitierten einen Arm auf einem Tisch oder Stuhl ab. Teppiche, Felle, Säulen und Vorhänge sollten ein wohnliches und großbürgerliches Ambiente schaffen. Da Posen und Requisiten für Wohlhabende und weniger Wohlhabende gleichermaßen Verwendung fanden, erwiesen sich die Visitfotografien als ein Instrument der visuellen Angleichung unterschiedlicher Milieus. Im Central-Volksblatt für den Regierungsbezirk Arnsberg hieß es dazu in einem 1868 verfassten Artikel zum Thema „Photographien“: „Nun kommt der Photograph, bringt uns in die richtige Stellung (welche, um Mühe zu sparen, neunmal von zehnmal genau die unseres Vorgängers ist) und heißt uns fest auf einen bestimmten Punkt an der Wand zu blicken.“ (27.5.1868)

Wie die Carte de Visite-Fotografien wurden in den Fotoateliers auch die sogenannten Kabinettaufnahmen im nassen Kollodiumverfahren gefertigt. Die Kabinettkarten maßen ca. 15 x 10 cm, waren somit fast doppelt so groß wie die Fotografien im Visitformat. Sie erfreuten sich vor allem für Gruppenaufnahmen großer Beliebtheit, waren aber auch ungleich teurer. So verlangte man 1885 in Düsseldorf noch 20 Mark für ein Dutzend Kabinettbilder. Durch die Maschinisierung der Herstellung war der Preis für die prestigeträchtigeren Aufnahmen 20 Jahre später aber so deutlich gesunken, dass im Atelier Germania in Münster 1904 nur noch 4,90 Mark für ein Dutzend Kabinettbilder verlangt wurden. Dass beide Formate über mehr als 50 Jahre hinweg nebeneinander existierten, belegen die drei Alben im Alltagskulturarchiv, in denen Aussparungen für beide Formate vertreten sind – wenn auch zahlenmäßig mehr für die kleineren Visitformate.

Eine möglichst prächtige äußere Gestaltung der Alben unterstrich den pekuniären und ideellen Wert der darin enthaltenen Lichtbilder, Alltagskulturarchiv, Inv. Nr. K03134.00006. (Foto: Cantauw)

Dass Kabinettfotografien noch um 1900 ungleich kostspieliger waren als die Carte de Visite-Fotografien, war natürlich allgemein bekannt und ist wohl ursächlich für ihr höheres Renommee. Vor allem, wenn man ein prestigeträchtiges Geschenk machen wollte, ging an der Kabinettfotografie kein Weg vorbei. Über das 50jährige Amtsjubiläum des Präsidenten Renner der linksrheinischen Eisenbahn in Köln hieß es dementsprechend in der Westfälischen Zeitung vom 15. Oktober 1890: „Um 10 Uhr versammelten sich die Oberbeamten, die mit und unter ihm gewirkt hatten, und überreichten ihm mit ihren Glückwünschen ein kostbares großes Album, ein Kunstwerk ersten Ranges, welches die Kabinettbilder der betr. Herren enthielt.“

Literatur:

Ahrens, Frauke: Das Carte de Visite-Portrait und die frühe Volkskunde. Wissenschaftsgeschichtliche Potentiale eines Fotoformats des 19. Jahrhunderts. In: Christiane Schwab (Hg.): Skizzen, Romane, Karikaturen. Populäre Genres als soziographische Wissensformate im 19. Jahrhundert. Bielefeld 2021, S. 28 – 53.

Gründig, Matthias: Der Schah in der Schachtel. Soziale Bildpraktiken im Zeitalter der Carte de Visite. Marburg 2016.

Starl, Timm: Sammelfotos und Bildserien: Geschäft, Technik, Vertrieb. In: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, 3 (1983), H. 3, S. 3 – 20.

Ders.: „Die Rückseite“. Fotokarten als Werbemittel der Atelierfotografen im 19. Jahrhundert. In: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, 1 (1981), H.2, S. 13 – 32.