Berta, Selma, Anna und Marta: Jüdische Mädchen und Frauen auf dem Land (Teil 1)

12.04.2024 Marcel Brüntrup

Ulrich Hengemühle

Eine höhere Schul- und eine Berufsausbildung waren für Mädchen und Frauen bis ins 20. Jahrhundert hinein nicht selbstverständlich. Das galt in den Städten, aber weitaus mehr noch auf dem Land, wo es keine weiterführenden Schulen gab und die beruflichen Möglichkeiten für Frauen sehr beschränkt waren. Wie gingen die wenigen wohlhabenden Familien, die in den Dörfern lebten, damit um? Kümmerten sie sich um die Aus- und Weiterbildung ihrer Töchter? Welche Bedeutung spielte die Konfession in diesem Zusammenhang? Und welche Möglichkeiten hatten Mädchen aus weniger vermögenden Haushalten?

Diesen Fragen soll im Folgenden am Beispiel von zwei jüdischen Familien aus Reken nachgegangen werden: Berta, Selma und Anna kommen aus der seit Mitte des 18. Jahrhunderts in "Gros-Reeken" ansässigen Familie Lebenstein. Ein Vorfahre, Mendel Lebenstein, hatte hier seit 1787 eine Handelskonzession. Marta Lebenstein entstammt einem Zweig der Familie aus Lembeck. Ihr Vater David Lebenstein (1867-1942) war gegen Ende das 19. Jahrhunderts nach Groß Reken gezogen und war oft auf Unterstützung durch die Familie des Isaak (gest. 1898) bzw. Simon Lebenstein (1851-1917) angewiesen. Dass Helene und Simon Lebenstein der Ausbildung ihrer drei Töchter erhebliche Bedeutung beimaßen, zeigt sich unter anderem schon daran, dass in die schulische Bildung der drei Schwestern einiges Geld investiert wurde: Sie erhielten zusätzlich zur Volksschulbildung Privatunterricht bei einer Gymnasiallehrerin unter anderem in Kurzschrift und Fremdsprachen. Auch den Besuch einer weiterführenden Schule ermöglichten die Eltern ihren Töchtern, Selma wurde sogar auf die Handelshochschule in Köln geschickt. Nach dem Abschluss der schulischen Ausbildung war den drei Mädchen auch das Sammeln eigener Berufserfahrung gestattet, bevor man mit Hilfe eines "Matchmakers" (Heiratsvermittler) nach einer geeigneten, standesgemäßen Partie (Geschäftsmann/-inhaber) Ausschau hielt.

Die Schwestern Selma, Anna und Berta Lebenstein um 1910 (Foto: Privatbesitz M. Gumpert, Jerusalem).

Mag man noch Elemente des Bestrebens erkennen, die Frauen so zu qualifizieren, dass sie das Geschäft der Männer in Zeiten ihrer Abwesenheit selbständig führen können, ist doch ihre Ausbildung nicht mehr nur dem Ideal einer Dame des Hauses verpflichtet. Gleichwohl waren Berta, Selma und Anna Lebenstein nicht nur auf eine berufliche Tätigkeit, sondern auch auf ein Leben mit Personal in einem gut bürgerlichen Geschäftshaushalt vorbereitet und entsprachen damit dem gesellschaftlichen Ideal ihrer Epoche. In Gumperts Haushalt (Selma heiratete 1909 den Kaufmann Philipp Gumpert) waren beispielsweise zwei Dienstmädchen, in ihrem Geschäft drei Verkäuferinnen eingestellt, in Berta Levinsteins Geschäft und Haushalt noch weit mehr. Hier zeigt sich Anfang des 20. Jahrhunderts das Assimilationsbestreben wohlhabender orthodoxer jüdischer Familien.

Berta Levinstein entsprach voll und ganz dem Bild der "Dame des Hauses": Auf dem Hochzeitsfoto blickt sie zu ihrem Mann Hermann Levinstein auf, der sie seinerseits aber nicht anschaut. Auf einem anderen Foto präsentiert sich Familie Lebenstein typisch großbürgerlich - für das kleine münsterländische Dorf Reken war das sehr ungewohnt. So verwundert es nicht, dass es in Reken für Berta nur einen angemessenen Umgang gab: den mit der Frau des Arztes Dr. Benson. Auch in beruflicher Hinsichtwaren ihre Aussichten nach der Eheschließung eher begrenzt; sie hatte sich zwar bereit erklärt, das Geschäft des Vaters zu übernehmen, doch war für die Geschäftsführung ihr Halbbruder Friedrich vorgesehen. 1911 heiratete Berta ihren Ehemann Hermann Levinstein, der sehr schnell mit Rekener Geschäftsleuten (männliche) Geselligkeit pflegte (Schützenverein, Feuerwehr – all das war Frauen verwehrt). Wie viele andere gebildete Frauen ihrer Zeit war sie auf Haushalt und Familie zurückgeworfen.

Das Ehepaar Berta und Hermann Levinstein mit Tochter Johanna 1915 in Bad Pyrmont (Foto: Heimatarchiv Reken).

Auch für ihre Tochter Johanna (geb. 3.10.1912) scheute das Ehepaar keine Kosten und Mühen, ihr eine gute und standesgemäße Ausbildung zu ermöglichen: ein Privatlehrer und das Abitur auf einem Lyzeum in Dorsten sollten sie bestmöglich auf ein Medizinstudium vorbereiten. Am 25. April 1933, mit dem Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen, fand dieses jedoch ein jähes Ende. Als Frau und Jüdin wurde sie an der Universität Münster nicht mehr geduldet. Anders als Berta Levinstein war ihre Schwester Selma auch nach der Eheschließung berufstätig geblieben. Sie war ganztägig im Geschäft ihres Mannes tätig. Um die Erziehung der Kinder und den Haushalt kümmerten sich Hausangestellte.

Genau das wurde aber 1958 in Zweifel gezogen, als ihr Mann, Philipp Gumpert, "Wiedergutmachung für Schäden im beruflichen Fortkommen" seiner Frau geltend machte (Akte K 204/Regierung Münster, Wiedergutmachungen, Nr. 9608, Selma Gumpert). Dazu musste er 1958 aus Israel Beweise für die Qualifikation seiner Frau beibringen. Für Haushalt und Erziehung/Betreuung der Kinder war bei Familie Gumpert jeweils eine Hausangestellte eingestellt worden. Beide Frauen bestätigen in ihren Aussagen, dass Frau Selma Gumpert ganztägig im Geschäft sowohl im Verkauf als auch in der Buchhaltung gearbeitet hatte. 6498 DM werden daraufhin nach anderthalb Jahren juristisch - behördlicher Auseinandersetzung an Herrn Gumpert gezahlt, nachdem er zuvor seine Erbberechtigung nachweisen musste. Selma war 1948 an Malaria verstorben.

Anna Lebenstein heiratete am 20.6.1904 den Kaufmann Josef Falk aus Rheine, geb. am 3.1.1862. Herr Falk war auch als Lehrer ausgebildet, übernahm aber das elterliche Haushaltswarengeschäft, das Anna und er bis 1925 in Rheine gemeinsam führten. 1908 wurde ihr Sohn Berthold geboren. Berthold wurde am 10.12.1923 von Arbeitskollegen einer Autoschlosserwerkstatt ermordet "aus Geldgier", wie es hieß. Die Mörder wurden 1933 von den Nazis amnestiert. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Familie Rheine aber bereits verlassen. Sie war im Oktober 1925 nach Bückeburg verzogen. Als ihr Mann am 25.2.35 starb, zog Anna in die Nähe von Bruder Albert nach Köln. Von dort konnte sie im Oktober 1938 nach Australien fliehen.

Fortsetzung folgt!