Vom Räderschuh zum Skating-Rink

16.04.2024 Marcel Brüntrup

Werkzeugkatalogabbildung Rollschuh, Archiv für Alltagskultur in Westfalen, Sign. 0000.60225.

Michael Rosenkötter

Am 8. Januar 1826 erschien in der „Düsseldorfer Zeitung - Politisches, Unterhaltungs- und Anzeige-Blatt“ folgende kurze Meldung:

„Se. k. k. Maj. von Oestreich haben nachfolgendes ausschließende Privilegium zu verleihen geruht: Dem August Löhner, Kleinuhrmacher in Wien, Vorstadt Thury Nr. 1., für eine Dauer von 5 Jahren, auf die Erfindung: mechanischer Räderschuhe, mit denen man auf gebahnten Straßen ohne große Anstrengung eben so schnell, ja noch schneller als mit Schlittschuhen auf dem Eise, sich fortbewegen, dabei auch bergauf- und bergabwärts gehen, sich nach allen Richtungen hinwenden und an jeder Stelle im Laufe sich aufhalten könne, daher solche hauptsächlich dazu geeignet seyen, um damit in einer kurzen Zeitfrist größere Strecken zu durchlaufen.“

Zwei Wochen später vermeldete das „Bonner Wochenblatt“ ausführlicher:

„Ein Wiener Uhrmacher, Namens August Löhner, dem Vernehmen nach ein Würtemberger, erhielt vor Kurzem, in Folge kaiserl. Privilegiums, auf fünf Jahre ein ausschließendes Patent zu Verfertigung von ihm erfundener mechanischer Räderschuhe, die mit Recht allgemeines Aufsehen erregen, und, wie die Ueberzeugung lehrt, um so mehr Beachtung verdienen, als die Anwendung derselben zu den verschiedensten und mannigfaltigsten Zwecken Nutzen zu verheißen scheint. Diese Schuhe dürften um so füglicher Roll-, Schnell-, Eil- oder auch sogar Meilenschuhe genannt werden, da man mit denselben auf jedem gebahnten, ebenen oder unebenen (nur nicht steilen) Wege, zu jeder Jahreszeit in einer halben Stunde die unglaubliche Strecke von einer deutschen Meile zurücklegen, jeder Hemmung durch plötzliche Wendung pfeilschnell ausweichen, über mäßige Erhöhungen auf, und abfahren, und nach Belieben jeden Augenblick im schnellsten Laufe innehalten kann. Die Idee dazu ist wahrscheinlich von jener der Schlittschuhe entlehnt, das Ergebniß aber übertrifft letztere nicht nur durch weit größere Schnelle, durch mannigfaltigere Anwendbarkeit und Nützlichkeit, sondern auch dadurch, daß der Gebrauch derselben mit weit weniger Gefahr verbunden ist. Abgesehen von den Vortheilen, welche diese Erfindung vielleicht dereinst auch der Haushaltungs- und Kriegskunst gewähren dürfte, verdient solche auch schon als höchst schätzbares Gesundheitsmittel Eltern, Erziehern und Aerzten nachdrücklich empfohlen zu werden. Sollte aber der alte Schlendrian auch dieser Erscheinung nicht mehr Verdienst, als jenes des Vorwärtseilens zuzugestehen geneigt seyn, so verdient ja doch die Kunst: ohne Anstrengung und Gefahr mit Reitenden und Fahrenden zu Fuße gleichen Schritt zu halten, freundlicheren Beifall, als die, gar Manchem wünschenswerther scheinende Fähigkeit verdienen würde die muntere lichtanstrebende Gegenwart mit einem Ruck ein halbes Jahrtausend zurück zu schieben.“

Diese Meldungen passen in eine Zeit, in der die Menschen allgemein das Gefühl hatten, das alles schnell gehen müsse: Die „Raschheit, und oft auch Übereilung, überhaupt“ könne „als ein charakteristisches Merkmal unserer Zeit gelten“, schrieb die „Neue Düsseldorfer Zeitung“ am 17. Mai 1825. Wir haben „Schnellposten, Schnellfuhren auf Eisenbahnen, Schnellschiffe, Schnellschreiber, Schnellpressen und andere Schnellmaschinen, Schnellreiche (parvenus) und noch mehrere dergleichen Schnell- (manchmal auch unreife) Produkte […], und wer, weiß, welche Schnellmittel das rasche Treiben des Erfindungsgeistes unserer Zeit noch zu Wege bringen mag.“

Laut Digitalem Wörterbuch der Deutschen Sprache wurden die Worte schnell und Schnelligkeit nie so häufig gebraucht wie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es war, wie wir heute sagen würden, eine rasante gesellschaftliche Veränderung.

Von den Räderschuhen berichteten die Zeitungen im nordrhein-westfälischem Raum nie wieder. Aber ein halbes Jahrhundert später, am 24.8.1876, meldete die „Wattenscheider Zeitung“: „In Barmen ist am Sonntag unter sehr großer Betheiligung des Publikums eine Rollschuh-Bahn (Skating-Ring [sic!]) eröffnet worden.“

Eine Woche später erschien in der Dortmunder Zeitung diese Kleinanzeige:

Anzeige in der Dortmunder Zeitung vom 30. August 1876.

Der Fredenbaum- oder Stadtpark liegt im Norden der Stadt Dortmund und ist für die städtische Bevölkerung das Naherholungsgebiet. Die Gaststätte „Zum Fredenbaum“ war der Treffpunkt für Jung und Alt und bot allerlei Vergnügungen und ab dem Spätsommer 1876 eben den English Skating Rink. Seit Anfang der 1870er Jahre waren in London über 50 solcher Rollschuhbahnen entstanden. Die englische Presse sprach von dem Phänomen „rink-o-mania“. Hier konnte sich die Jugend ungestört von erwachsenen Anstandspinseln treffen, denn letztere wagten sich nicht mit Rollschuhen auf die glatte, asphaltierte Bahn.

Eine Rollschuh-Bahn nach der anderen – oder sollten wir Skating-Rink sagen – eröffnete … und rief die Sprachkritiker auf den Plan. Die „Kölner Nachrichten“ erhielten folgende Zuschrift, die auch in Gänze am 12. September 1876 abgedruckt wurde:

Wir Deutsche sind wieder einmal drauf und dran, ein Fremdwort bei uns einzubürgern, nämlich:„Skating-Rink". Dasselbe empfiehlt sich allerdings seiner größern Kürze und seines bessern Klanges willen vor dem von gänzlich Unberufenen hierfür eingeführten Ausdruck: Rollschlittschuhbahn. Dieser letztere Ausdruck ist aber obendrein noch falsch gebildet, denn der „Schlittschuh“ trägt seinen Namen nicht vom Zweck, wie der „Tanzschuh"— sonst müßten wir etwa „Gleitschuh“ sagen—, sondern von einem seiner wichtigsten Bestandtheile, dem Schlitten, wie unsere „Zeug- und Holzschuhe", die berühmten „Lackstiefel", oder wie der „Bleistift“ im Gegensatz zum „Schreibstift". „Schlittschuh“ ist überdies eine Verkürzung von „Schlittenschuh", und zwar eine sehr treffende, weil an ihm nur ein Schlittenbaum sich befindet, er also gleichsam nur ein halber Schlitten ist. Nun hat aber ein sog. Rollschlittschuh mit einem Schlitten überhaupt nichts gemein, seine charakteristischen Bestandtheile sind vielmehr Rollen, derart, daß „Rollenschuh" oder besser noch „Rollschuh“, als die allein richtige Bezeichnung für ihn sich ergibt, entsprechend dem viel citirten „Schlittschuh", dem „Rollwagen, Wollhandel, Wollmarkt [sic!]“ etc.. Demnach ist auch das Wort „Rollschlittschuhbahn“ gänzlich zu verwerfen. “Rollschuhbahn“ würde in seiner Zusammensetzung der „Pferdebahn“ entsprechen, ist aber unnöthig lang, weil wir noch über das kürzere Wort „Rollbahn" verfügen können, welches— wie „Reitbahn“— die Sache erschöpfend bezeichnet und daher vor jenem sich empfiehlt. Demgemäß wäre es besser, künftig nicht mehr rollschlittschuhlaufen auf der Rollschlittschuhbahn mit Rollschlittschuhen, sondern in der Rollbahn auf Rollschuhen einfach rollen zu sagen.

Solche Besserwisser und Spracherzieher gab es auch schon damals. Aber sie wurden geflissentlich ignoriert: Ende September (25.9.1876) erschien in der Solinger Zeitung diese Kleinanzeige:

Anzeige in der Solinger Zeitung vom 25. September 1876.

Schnell etalierten sich die Rollschuh-Bahnen auch als Veranstaltungsorte: Im November 1876 lud die Aachener Rollschuh-Bahn zur Production der ersten Rollschuh-Künstler und -Künstlerinnen von Paris und London ein. Die Rollschuh-Bahn am Flora-Theater veranstaltete im selben Jahr Anfang Dezember  ein „Militär-Concert, ausgeführt von der Capelle des Infanterie-Regiements. Anfang 3 Uhr, Ende 9 Uhr“. Da es Winter sei, wurde noch angemerkt: „Das Restaurations-Local ist gut geheizt.“

Die Anzeigen und Artikel finden sich alle in dem Zeitungsportal NRW. Wenn man dort nach dem Stichwort „Rollschuh“ sucht, bekommt man Artikel in 5.405 Zeitungsausgaben zurück. Aufgegliedert nach Jahrzehnten:

1871-1880                         148

1881-1890                            42

1891-1900                            49

1901-1910                         605

1911-1920                         427

1921-1930                         611

1931-1940                     3.171

1941-1950                         329

1951-1960                            12

1961-1970                              8

1971-1980                              3

gesamt                            5.405

Rollschuhbahn in Frankfurt am Main, 1937, Archiv für Alltagskultur, Sign. 2004.05747.

Man sieht, nach ein paar Jahren war der Rummel um die Rollschuh-Bahnen oder Skating-Rinks abgeebbt. Anfang des 20. Jahrhunderts, mit dem absoluten Höhepunkt in den 1930er Jahren, hatte sich das Rollschuhlaufen durchgesetzt. Nach dem 2. Weltkrieg verschwanden die Rollschuhe wieder und später – Ende der 1970er Jahre – kamen die Inline Skates, kurz Inliner, auf.