Berta, Selma, Anna und Marta: Jüdische Mädchen und Frauen auf dem Land (Teil 2)

19.04.2024 Marcel Brüntrup

Ulrich Hengemühle

Inserat des Viehhändlers Davis Lebenstein, BZ, 11.4.1918.

Letzte Woche wurde in diesem Blog über den schulischen und beruflichen Werdegang von drei jüdischen Schwestern aus Reken berichtet. Es zeigte sich, wie wichtig die finanziellen und sozialen Verhältnisse ihrer Herkunftsfamilie für ihren Werdegang waren. Dass schulische und berufliche Werdegänge wie derjenige von Berta, Selma und Anna um die Wende zum 20. Jahrhundert aber eher die Ausnahme als die Regel waren, belegt die Ausbildung von Marta Lebenstein. Sie wurde am 26.6.1903 in Groß Reken geboren. Ihre Eltern waren Berta (6.12.1867) und David Lebenstein (30.3.1867), entfernt verwandt mit den Lebensteins vom "Kaufhaus Lebenstein" in der Dorfstraße. Die Familie von Marta lebte eher bescheiden von einer Sattlerei und gelegentlichem Viehhandel.

Ausweislich der Schülerliste der Volkschule in Groß Reken besuchte Martha von 1910 an die Volksschule, so wie ihre Brüder Alex und Leopold auch. In Preußen hatte es 1908 eine Bildungsreform gegeben, die es Mädchen erlaubte, das Abitur zu machen und zu studieren. Formal wäre für Marta also der Zugang zu höherer Bildung möglich gewesen. Finanziell war das für die Familie Lebenstein - unabhängig von Martas schulischen Leistungen - aber undenkbar.

Im Chaos des 1. Weltkrieges beendete Marta Ostern 1917 mit vierzehn Jahren ihre Schullaufbahn. Im Gegensatz zu Berta und Selma existiert von Marta kein Foto, ebenso wenig von ihren Brüdern als Kinder oder von ihrer Familie. Es gab schlichtweg nichts zu (re-)präsentieren. Auch ein Portraitfoto war eine Frage des Geldes und eines erinnerungswürdigen Anlasses: Das wäre eine Hochzeit gewesen, aber da Marta nicht geheiratet hat, gibt es auch kein Foto von ihr als erwachsene Braut. So fand sie - wie viele Frauen aus armen Familien – in der fotografischen Erinnerung nicht statt.

Was Marta nach dem Ende ihrer Volksschulzeit gemacht, wo und ab wann sie gearbeitet hat, lässt sich nicht genau nachverfolgen. In den Archiven der Gemeinde Reken gibt es zu Marta keinerlei Unterlagen. Es wäre für ihre Familie sehr hilfreich gewesen, sie in eine Anstellung zu bringen, die erstens den eigenen Tisch entlastet und zweitens möglicherweise sogar etwas Unterstützung eingetragen hätte. Aber in diesen Zeiten, am Ende und kurz nach dem 1. Weltkrieg?

Während der Märzunruhen (Kapp-Lüttwitz-Putsch) 1920 im Raum Wesel-Dinslaken eine Anstellung zu finden, war sicher ebenso schwierig wie Anfang der 1920er Jahren als bedingt durch den Abzug der Garnison 1920 der wirtschaftliche Niedergang der Stadt Wesel begann. In der Zeit vom Januar 1923 bis zum 21.Oktober 1924 kam es durch die Besatzung Wesels durch belgische Truppen zu erheblicher Arbeitslosigkeit und zu einer regelrechten De-Industrialisierung, auch das war keine gute Voraussetzung für die Arbeitssuche. Auch eine Eheschließung als Ausweg aus dieser Misere entfiel scheinbar: Marta war zu Beginn der 1920er Jahre zwar im heiratsfähigen Alter, aber es fand sich kein geeigneter Heiratskandidat. Ihren Brüdern ging es offenbar ähnlich. Sie heirateten erst Anfang der 1950er Jahre in Israel.

Sicher belegt ist Martas Berufstätigkeit in Wesel erst durch einen Eintrag im Adressbuch der Stadt Wesel von 1931: Lebenstein Marta, Verkäuferin, Fischmarkt 2 (ich verdanke diesen Hinweis Frau Rulofs-Terfurth vom Stadtarchiv Wesel). Das Haus Fischmarkt 2 gehörte der jüdischen Familie Meyer. Wahrscheinlich schon vor 1936 musste sie Wesel verlassen, da auch dieses Geschäft wegen der Boykotte aufgegeben werden musste. Bis zu diesem Zeitpunkt hat Marta im Geschäft der Familie in Wesel gearbeitet und fleißig an ihrer "Aussteuer" gespart. Nachfolgend ein Auszug aus ihrer Liste von Dingen, die sie vor ihrer Deportation einer Nachbarsfamilie zur Aufbewahrung gab:

Diese Sachen hatte Marta einer Nachbarsfamilie vor dem 15.10.1941 übergeben, um sie vor dem Zugriff der NS-Reichsverwaltung und damit vor einer "Versteigerung" zu retten (Heimatarchiv Reken).

Aussteuer häuft Frau nicht "einfach so" an. Auch Marta Lebenstein hatte von einer Rückkehr in die Heimat und einer nachfolgenden Heirat geträumt. Warum sonst hätte sie ihre Sachen der Nachbarsfamilie zur Aufbewahrung geben sollen? Zu einer Rückgabe der mühsam zusammengetragenen Aussteuer sollte es aber nicht kommen: Marta Levinstein wurde am 10.12. 1941 nach Riga deportiert und am 31.10 1944 in Stutthoff ermordet.