Archivbestände vorgestellt: Le Livre de la Chasse – Das Jagdbuch des Grafen Phoebus als Weihnachtsgeschenk für Peter Tell

04.07.2023 Marcel Brüntrup

Peter Tell erhält das von seiner Mutter Lotte Tell gestaltete Jagdbuch als Geschenk. (Archiv für Alltagskultur, Personenbestand Peter Tell, K03197.0045).

Sophie Ullrich

„Jagdbuch des Grafen Phoebus“, diesen beeindruckenden Titel trägt ein selbst gestaltetes Buch aus dem Nachlass von Peter Tell, der 2022 ins Archiv für Alltagskultur gelangte. Besagtes Jagdbuch war ein Geschenk für den sechsjährigen Peter von seiner Mutter Lotte und wurde ihm an Weihnachten des Jahres 1944 feierlich überreicht.

Seine Mutter, die Malerin und Grafikerin Lotte Tell, gestaltete das Buch nach dem Vorbild des für die Jagdliteratur relevanten „Livre de la Chasse“ (Buch der Jagd), welches ab 1387 vom Grafen von Foix und Vicomte von Béarn, Gaston III. Fébus, genannt Gaston Phoebus, verfasst wurde. Das von Lotte Tell gestaltete Buch besteht aus 12 doppelt gefalteten Seiten, die mit aufgeklebten Nachdrucken von Illustrationen aus dem „Livre de la Chasse“ beklebt sind. Unter diesen Drucken befinden sich von Lotte Tell handgeschriebene Titel, die auf den Inhalt der Bilder verweisen. Bei den Bildern handelt es sich um eine Auswahl von Illustrationen, die in einer Version des Jagdbuchs aus der französischen Nationalbibliothek zu finden sind, jedoch sind diese nicht in identischer Reihenfolge angeordnet.

Die Vorder- und Rückseite des Buches aus dem Personenbestand Tell sind von Lotte Tell aufwendig gestaltet worden. Die Titelseite ziert das Bild eines prächtigen Hirsches und einer dahinterstehenden Hirschkuh. Darunter steht in roten und grünen Lettern der besagte Titel geschrieben. Weiterhin verziert wird das Ganze durch eine Umrahmung in Rot- und Grüntönen mit jeweils vier gemalten Sternen in den Ecken, die sich auch auf der Rückseite des Buches wiederfindet.

Titelseite des von Lotte Tell gestalteten Jagdbuch des Grafen Phoebus (Archiv für Alltagskultur, Personenbestand Peter Tell, K03197.0045).

Das Vorbild für das hier vorliegende Buch, das „Livre de la Chasse“, gilt als bedeutendes Werk der europäischen Jagdliteratur und der französischen Buchmalerei. Im Jahre 1389 fertig gestellt, wurde es um 1407 von Illuminatoren in Paris gestaltet und in Abschriften angefertigt. Das Jagdbuch erfreute sich großer Beliebtheit und wurde vielfach kopiert, in späteren Jahrhunderten auch gedruckt. Insgesamt ist es in 44 Abschriften überliefert, von denen diejenigen der französischen Nationalbibliothek und der Morgan Library in New York als die herausragendsten gelten. Gaston Phoebus befasst sich in seinem Buch auf detaillierte Art und Weise mit allen gängigen Formen der Jagd. Zudem beschreibt er Charakter und Verhalten der jagbaren Tiere und widmet dem Hund als treuem Jagdbegleiter des Menschen und „nobelsten Tier“ gleich zehn Kapitel. Auch die notwendigen Techniken zum Aufspüren und Töten von Wild, das Zerlegen und Häuten der erbeuteten Hirsche, sowie die anschließende rituelle Belohnung der Jagdhunde werden erläutert. Die ausführlichen Beschreibungen werden durch aufwendig gestaltete und mit Blattgold verzierte Miniaturen untermalt, die als einzigartige Kunstwerke der französischen Buchmalerei gelten.

„Spielende Bärenfamilie vor der Höhle“. Bildausschnitt aus dem gebastelten Jagdbuch des Grafen Phoebus (Archiv für Alltagskultur, Personenbestand Peter Tell, K03197.0045).
„Die Herstellung von Schlingen und Fallen für die Jagd“. Bildausschnitt aus dem gestalteten Jagdbuch des Grafen Phoebus (Archiv für Alltagskultur, Personenbestand Peter Tell, K03197.0045).

Auf Grund seines lehrreichen Charakters und des im Buch zum Ausdruck kommenden Verständnisses der Beziehung zwischen Mensch, Tier und Umwelt sowie der Beschreibung von eigenen Beobachtungen des Grafen Phoebus, galt das Buch bis in das 19. Jahrhundert hinein als Lehrbuch für die Jagd. Zudem hat das „Livre de la Chasse“ bis heute für die historische Forschung großen Wert, da es als Zeugnis der Jagdkultur Aussagen über die Ausgestaltung der Jagd im 14. Jahrhundert zulässt. Im Mittelalter stellte die Jagd eine der wichtigsten Beschäftigungen der adligen Gesellschaft dar, die mit entsprechendem Renommee verbunden war. Die Jagd diente neben der Versorgung mit Fleisch auch der körperlichen Ertüchtigung. Ein weiterer Grund zur Jagd bestand in der Erfüllung der feudalen Pflichten des Adels. Der Landesherr hatte dafür Sorge zu tragen, dass das Vieh der Bauern vor Wildtieren und die Nutzpflanzen vor pflanzenfressenden Tieren wie Rehen geschützt wurden.

„Die Jagdhunde“. Bildausschnitt aus dem gestalteten Jagdbuch des Grafen Phoebus (Archiv für Alltagskultur, Personenbestand Peter Tell, K03197.0045).

Die Kunstfertigkeit des „Livre de la Chasse“ lässt sich nur schwer vergleichen und doch besitzt auch das von Lotte Tell gestaltete „Jagdbuch des Grafen Phoebus“ einigen künstlerischen Wert. Als ausgebildete Malerin und Grafikerin wusste Lotte Tell die Drucke der Jagdszenen durch die von ihr hinzugefügten kalligrafischen Betitelungen der Bilder in Szene zu setzen. Das ausgewählte Papier hat pergamentähnlichen Charakter und zeugt von einer Auseinandersetzung mit dem historischen Vorbild. Die illustrierte Vorderseite des Buches zeigt das gestalterische Können der Urheberin dieses sehr besonderen Geschenks.

Es bleibt zu fragen, wie genau das Buch hergestellt wurde. Bei den eingeklebten Bildern, welche unterschiedliche Jagdszenen zeigen, handelt es sich augenscheinlich um Nachdrucke der berühmten Illustrationen aus dem „Livre de la Chasse“ der französischen Nationalbibliothek. Standen Lotte Tell Kopien von einem Nachdruck zur Verfügung?  Gab  es vielleicht eine Kalenderausgabe mit den illustrierten Miniaturen des Jagdbuchs und die Bilder wurden dort herausgeschnitten? Jedenfalls handelt es sich zweifelsohne um auf hochwertiges Papier gedruckte Bilder in leuchtenden Farben und von hoher Qualität.

Peter Tell in Havixbeck an Silvester des Jahres 1983 mit dem gestalteten Jagdbuch im Arm (Archiv für Alltagskultur, 2023.00021).

Die Gestaltung des hier vorliegenden Jagdbuchs ist auch insofern besonders, als dass Lotte Tell vermutlich nur begrenzte Mittel zur Verfügung standen, um für ihren Sohn Peter ein Geschenk zu kreieren. Die beiden befanden sich an Weihnachten des Kriegsjahres 1944 in Ruhpolding, wohin sie, zusammen mit Lottes Eltern, in der Zeit von 1943-1948 aus Essen evakuiert worden waren. Lotte Tells Ehemann, Wilhelm Tell, befand sich zu dieser Zeit im Kriegseinsatz und geriet ein Jahr später in sowjetische Kriegsgefangenschaft. So reiht sich das für Sohn Peter gestaltete Geschenk ein in all die selbstgebastelten Geschenke (gestrickte Schals und Handschuhe, Puppenkleider, Puppenstuben, geschnitzte Figuren etc.) der Kriegs- und Nachkriegszeit. Doch Lotte Tell verfügte als Künstlerin über einiges gestalterische Können, um trotz der kriegsbedingt wahrscheinlich schwierigen Situation ein einzigartiges Geschenk herzustellen.

Das von der Malerin und Grafikerin Lotte Tell gestaltete Weihnachtsgeschenk für ihren kleinen Sohn besaß neben seinem ästhetischen Wert vor allem Erinnerungswert. Es erzählt von dem Bemühen einer Mutter für ihren Sohn ein einzigartiges Geschenk zu schaffen und von der Freude und Dankbarkeit eines Kindes, das dieses Geschenk jahrzehntelang aufbewahrt hat.

Literatur:

Vernier, Richard, Lord oft he Pyrenees. Gaston Fébus, Count of Foix (1331-1391), 12. September 2012, published online by Cambridge University Press, URL: https://www.cambridge.org/core/books/abs/lord-of-the pyrenees/frontmatter/5083BDF37C1A112A8B484209B7B77A89 (Zugriff: 15.06.2023).

Foix, Comte, Gaston/ Bise, Gabriel, Das Buch von der Jagd. Ein klassisches Meisterwerk der Jagdkunst, Text von Gabriel Bise gemäß Gaston Phoebus, Gütersloh 1978.

Internetquelle:

Ziereis Faksimiles, URL: https://www.ziereis-faksimiles.de/faksimiles/buch-der-jagd-von-gaston-phoebus (Zugriff: 15.06.2023).