Die Glocken schweigen. Oder: „Gewitterableiter“ in preußischen Kammerakten

07.07.2023 Niklas Regenbrecht

Darstellung von Blitzableitern aus der Publikation von David Gilly und Johann Albert Eytelwein, 1798 (LAV NRW W, D 607, Nr. 364, fol. 17r).

Sebastian Schröder

Im 18. Jahrhundert wurden die allermeisten Häuser in den preußischen Territorien Minden und Ravensberg in Fachwerkbauweise errichtet. Steinerne Gebäude waren ein eher seltener Anblick. Selbst in den Städten überwogen hölzerne Baumaterialien. Häufig bedeckte Stroh die Dächer. Erst allmählich setzten sich Pfannen durch, obwohl die Kriegs- und Domänenkammer als landesherrliche Obrigkeit schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts entsprechende Verfügungen erlassen hatte. Damit bezweckte sie, die Gefahr einer Brandkatastrophe einzudämmen. In den engen Gassen der Städte genügten schon wenige Funken, um die Gebäude oder strohgedeckten Dächer zu entzünden. Dachpfannen und Schornsteine boten in dieser Hinsicht einen gewissen Schutz. Zudem musste ein Mitglied des städtischen Magistrats regelmäßige Brandschauen durchführen. Der Beauftragte hatte alle Öfen und Darren genau zu inspizieren. Ihn unterstützte ein Schornsteinfeger, der die Abzugsvorrichtungen regelmäßig reinigen sollte.

Derartige Vorgaben und Kontrollmaßnahmen erschienen geeignet, Bränden in gewisser Hinsicht vorzubeugen. Unberechenbare Naturereignisse und vor allem Gewitter ließen sich dagegen nicht vorhersehen und es standen kaum Mittel zur Verfügung, etwaige Schäden zu minimieren. Die Bevölkerung in Stadt und Land behalf sich mit abergläubischen Praktiken. So war es üblich, bei Blitz und Donner zu läuten. Dem preußischen König Friedrich II. (1712–1786) missfiel dieses Prozedere. Er beäugte es als einen „auf einen bloßen Aberglauben hinauslaufenden Mißbrauch“, der „allen vernünftigen Principiis zuwieder“ laufe. Deshalb war er nicht willens, das Läuten bei Gewittern „länger zu dulden“. Folglich befahl der Monarch im September 1783 allen kirchlichen Behörden, ein Verbot zu verkünden. Im November des Jahres erreichte das königliche Schreiben die Provinzen Minden und Ravensberg, wo es in allen Städten, Ämtern und Gerichtsbezirken sowie von allen Kanzeln bekannt gemacht wurde.

Darstellung von Blitzableitern aus der Publikation von David Gilly und Johann Albert Eytelwein, 1798 (LAV NRW W, D 607, Nr. 364, fol. 18r).

Ob die Glocken in der Folgezeit wirklich schwiegen, dazu liefern die Unterlagen der Kriegs- und Domänenräte zwar keine Aussage. Dafür präsentierten die Beamten im Winter 1798 eine ganz neue Methode, den gefürchteten Blitzen ihren Schrecken zu nehmen. Denn die Geheimen Oberbauräte David Gilly und Johann Albert Eytelwein hatten eine „Anleitung“ verfasst, „auf welche Art Blitzableiter an den Gebäuden anzubringen“ seien. 30 Exemplare dieser Druckschrift sandte die preußische Zentralbehörde aus Berlin Richtung Westfalen. Eine von ihnen erreichte auch die Mindener Kriegs- und Domänenkammer.

Vorausgegangen war der Veröffentlichung eine Studie des „hohen General-Ober-Finanz-Kriegs- und Domainen-Direktoriums“ über die Wirkung der „Gewitterableiter“, die der Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. (1770–1840) als „gemeinnützig“ lobte. Erfunden hatten seine Beamten dieses System freilich nicht. Als diesbezüglicher Pionier wird vielmehr der Amerikaner Benjamin Franklin angesehen. Seine Forschungen elektrisierten ab der Mitte des 18. Jahrhunderts die Fachwelt. Dabei blieben Franklins Versuche mit einer eisernen Stange nicht unwidersprochen. Manche glaubten, dass dieser Stab ein Gewitter geradezu anziehe. Andere Forscher bevorzugten deshalb eher eine Kugel. Insgesamt sollte es lange dauern, ehe Franklins Arbeiten weithin anerkannt wurden.

Von den Schwierigkeiten und Herausforderungen bei der Anlage von Blitzableitern wussten auch die Oberbauräte Gilly und Eytelwein. Einleitend bemerkten sie dazu in ihrer Publikation: „Weil man bey einem Gebäude nur alsdann mittelst eines Ableiters für die nachtheilige Wirkung des Blitzes gesichert seyn kann, wenn alle vorzüglich emporstehende Hervorragungen mit der Ableitung verbunden sind, indem sich Fälle angeben lassen, wo ein Blitz nicht den Ableiter, sondern einen andern hervorragenden Theil des Gebäudes getroffen hat; auch der so verschieden angenommene Wirkungskreis der Auffangestangen noch ungewiß ist, und durch mehrere Erfahrungen immer mehr eingeschränkt wird, so ist es um so mehr nöthig, daß bey Anlegung der Gewitterableiter alle mögliche Vorsicht beobachtet werde, damit der Endzweck nicht verfehlt wird.“ Ihrer Leserschaft schärften die Autoren daher ein, „daß keine vorzüglich nach oben vorspringende Ecke eines Gebäudes unbewaffnet bleibt“. Ansonsten zeigten sich Gilly und Eytelwein überzeugt, dass es mithilfe von „Metallstreifen“ gelinge, die „elektrische oder Blitzmaterie“ abzuleiten, wobei die sogenannten „Auffangestangen“, „Zuleitungen“ und „Ableitungen“ gewisse Vorgaben erfüllen müssten. Einerseits sei darauf zu achten, dass die Vorrichtungen hoch genug über das Gebäude hinwegragten. Andererseits müsse das Material eine ausreichende Dicke aufweisen. Und vor allem hätten alle Drähte ununterbrochen miteinander verbunden zu sein. Die durch den Blitz erzeugte Energie sollte am besten in einen Brunnen, eine Wassergrube oder zumindest eine feuchte Fläche geleitet werden, empfahlen die Fachleute. Insofern würden sich auch Regenrinnen als Teil der Anlage anbieten.

Die Mindener Kriegs- und Domänenkammer unterrichtete alle Land- und Steuerräte in ihrem Verwaltungssprengel über diese Publikation und befahl, sie in den gesamten Territorien zu verbreiten. Inwiefern die Untertanen tatsächlich begeistert „Feuer fingen“, bleibt jedoch angesichts fehlender Unterlagen unbekannt. Trotzdem belegen die Akten der Kammerbehörde, wie sich allmählich wissenschaftliche Erkenntnisse selbst in der Provinz verbreiteten und zu einem völlig veränderten Verständnis natürlicher Phänomene beitrugen. Der Blitzableiter ist in dieser Hinsicht nur ein Objekt und Symbol eines viel tiefer greifenden gesellschaftlichen Wandels.

 

Quelle: Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen, D 607/Kriegs- und Domänenkammer Minden, Nr. 364: Abstellung des Läutens bei Gewitter und Anlegung von Blitzableitern, 1783–1798.

Die bisherigen Teile der Serie zur Kriegs- und Domänenkammer Minden:

Ein Dickicht voller Alltagskultur: Die preußischen Kriegs- und Domänenkammern in Westfalen im 18. Jahrhundert

Die Preußen wollen umsatteln: Zugochsen statt Pferde lautete die Devise

Erfindergeist in Minden und Ravensberg

Die Preußische Kriegs- und Domänenkammer und der Kampf gegen Viehseuchen

Bergbau in Bierde? Die Mindener Kriegs- und Domänenkammer und die Steinkohle