Katholische Kinokultur gegen Skandalfilme

24.03.2020

Die im Herzen des mittelalterlichen Stadtkerns gelegene Schmiedestraße in Billerbeck mit Eingang zum Kino „Union-Theater“ (ganz links im Bild), welches sich in einem umgebauten Saal des Hotel Ahlers befand. Quelle: Stadtarchiv Billerbeck, Fotobestand.

Katholische Kinokultur gegen Skandalfilme

Von Dörthe Gruttmann

Fast jeder hat schon einmal von dem Skandalfilm „Die Sünderin“ mit Hildegard Knef von 1951 gehört. Skandalträchtig galt er aufgrund der angesprochenen Themen Prostitution, Selbstmord und Tötung auf Verlangen, deren bildliche Darstellung gegen kirchlich-moralische Ansprüche verstieß. Dieser Film ist das bekannteste Beispiel aus einer ganzen Reihe von Filmen, die aufgrund ihres Inhalts aus religiöser Sicht verurteilt wurden. Die Auswirkungen dieser Ablehnung machten sich besonders auch in Klein- und Großstädten bemerkbar, die eine überwiegend katholische Bevölkerung hatten, wie beispielsweise in der münsterländischen Kleinstadt Billerbeck. Denn die Zensur der Freiwilligen Selbstkontrolle (FSK) war nicht deckungsgleich mit der gewünschten Zensur der katholischen Filmkommission, die ein eigenes Bewertungssystem für Filme verwendete.

Welche Filme katholischen Moral- und Wertvorstellungen entgegenstanden oder als kulturell wertvoll angesehen wurden, wurde seit 1949 in der von der Katholischen Filmkommission für Deutschland herausgegebenen Zeitschrift „Film-Dienst“ Millionen von Deutschen mitgeteilt. Aushänge der Filmbewertungen gab es z.B. in den Schaukästen der Gemeinden und Pfarreien. Auch in Billerbeck, einem wichtigen Wallfahrtsort im Bistum Münster, der als Sterbeort des ersten Münsteraner Bischofs Ludgerus teils überregionale Bekanntheit erlangte, wurden in den 1950er Jahren diese Bewertungen wahrgenommen und von der städtischen Führungsschicht als vorbildhaft akzeptiert.

Das 1948 von dem aus Berlin zugezogenen protestantischen Ehepaar Mischke im Saal eines Hotels behelfsmäßig eingerichtete Kino „Union-Theater“ mit 350 Sitzplätzen sollte sich nach Auffassung vieler Billerbecker Einwohner auch der katholischen Lebenswelt anpassen. Daher war das Entsetzen groß, als im Kino am Vorabend des Jugendbekenntnistages 1952 mit dem Film „Eva und der Frauenarzt“ Spätvorstellungen eingeführt wurden. Ein Brief unterschiedlicher Parteien, der in der Lokalzeitung Billerbecker Anzeiger einige Tage später veröffentlicht wurde, drückte die Ansicht aus, dass nicht nur der Film, sondern auch Spätvorstellungen an sich unhaltbar für die örtlichen ländlichen Verhältnisse und eine christliche Einstellung seien. Der städtische Kulturausschuss hatte zuvor in einer Sitzung über den Film diskutiert, der vom Film-Dienst abgelehnt wurde, aber trotzdem sehr gut besucht war.

Das Kino „Union-Theater“ stand bis zu seiner Schließung Ende der 1950er Jahre nicht nur sprichwörtlich im Schatten des mächtigen Ludgerusdomes in Billerbeck. Quelle: Stadtarchiv Billerbeck, Fotobestand.

Die Stadtgemeindevertretung, der städtische Kulturausschuss, weltliche und religiöse Vereine sowie die lokalen Geistliche beschäftigten sich auch weiterhin mit vielen vorgeführten (und beanstandeten) Filmen im Union-Theater. Als Frau Mischke an den Osterfeiertagen 1953 den Film Cuba Cabana mit Zarah Leander als Nachtclubbesitzerin und Geliebte eines Straftäters vorführen wollte [vom Film-Dienst mit „Für Erwachsene mit erheblichen Vorbehalten“ bewertet], versuchte die Verwaltung die Vorführung zu verhindern. Dies ging so weit, dass sie der Verleihfirma 230 DM Schadensersatz für die Nichtvorführung zahlte. Der Amtsdirektor verweigerte jedoch die Entrichtung der geforderten Kompensation an die Kinobesitzer.

Trotz des öffentlich ausgeübten sozialen Drucks auf das Ehepaar Mischke, ließen sich viele Einwohner nicht davon abhalten, ihr Privatleben nach eigenen Maßstäben und Vorstellungen zu gestalten und besuchten weiterhin die Spätvorstellungen des Kinos. Die katholische Kirche konnte die von ihr lange Zeit ausgeübte Funktion als kulturelle Zensurinstanz nicht mehr aufrechterhalten.

Als der alteingesessene – katholische – Einwohner Theo Zumbusch 1954 mit dem Odeon ein weiteres Kino in einem Neubau neben seiner Kneipe „Altdeutsche Gaststätte“ eröffnete, veränderte sich jedoch die Situation in der Kleinstadt. Denn sein Kino wurde nun für eine erfolgreiche Bildungsinitiative genutzt, die als unmittelbare Reaktion auf die gezeigten „Skandalfilme“ des Union-Theaters zu bewerten ist.

Dort organisierte auf Initiative der Kolpingfamilie das Volksbildungswerk im Winterhalbjahr 1954 zusammen mit dem Diözesan-Filmreferenten Hans Fahle einen Filmdiskussionsabend, bei dem der Film sofort im Anschluss mit dem Publikum diskutiert wurde. Hierbei ging es ausschließlich um eine moralische und religiöse Bewertung der Filme und weniger um ästhetische oder filmische Aspekte, wie dies bei Filmklubs der Fall war. Sie dienten dazu, die Wertschätzung für kulturell wertvolle Filme zu erhöhen und ein kritisches Beurteilungsvermögen innerhalb der ländlichen Bevölkerung zu fördern. Diese Diskussionsabende fanden im Winter alle vier bis sechs Wochen zu vergünstigten Eintrittspreisen statt – etwa vier bis sechs Mal im Jahr. In den ersten fünf Jahren nahmen rund 7.500 Personen in Billerbeck an den Filmdiskussionsabenden teil. Unterstützt wurde dies durch die städtischen Autoritäten, die Schulen und die Diözesanstellen.

Das Format war so erfolgreich, dass sich bis Ende 1958 Kinos in 40 Städten des Bistums beteiligten. Veranstalter waren entweder die Kirchengemeinde, die Volksbildungswerke, die Filmliga oder der Kinobetreiber selbst. Drei Jahre nach der Einführung wurden die Diskussionsabende als stärkster Aktivposten der katholischen Filmarbeit im Bistum Münster angesehen. Sie wurden in Billerbeck interessanterweise auch dann noch durchgeführt, als es schon längst keine Spätvorstellungen mehr gab. Denn Theo Zumbusch kaufte das Union-Theater bereits 1955 auf – das Ehepaar Mischke hatte genug von den kleinstädtischen Verhältnissen und kehrte Billerbeck den Rücken zu.