„Move up to a better life, eat Hamburgers!“

06.09.2019

Die zunächst geplante Route der USA-Reise, die jedoch erweitert wurde, die Gruppe reiste erst am 11. November zurück. Auf der Karte wurde mit blauen Stift die tatsächliche Route eingezeichnet; Foto: Cantauw, Volkskundliche Kommission für Westfalen (LWL).

„Move up to a better life, eat Hamburgers!“

Eine Konzertreise des Madrigalchors der WWU Münster in die USA im Jahr 1959

Kathrin Schulte

Am 29.09.1959 bestiegen 40 Studierende des Madrigalchors der WWU Münster mit ihrer Chorleiterin ein Flugzeug nach New York, um eine Konzertreise mit Auftritten in 27 verschiedenen Städten anzutreten. Ein liebevoll gestaltetes Zeugnis dieser Reise stellt ein Fotoalbum aus dem Nachlass von Renate Brockpähler dar (falls der Name vertraut klingt: Ein Urlaubsalbum aus dem Nachlass wurde bereits im Rahmen eines Blogartikels thematisiert).   

Die Vorbereitungen

Neben der Begeisterung für die Zeugnisse der Reise stellte sich uns vor allem eine Frage: Wie wurde diese Reise finanziert? Selbst heute sind Flüge in die USA für viele Studierende unerschwinglich. Wie war es vor 60 Jahren einem ganzen Chor möglich, so eine Reise zu finanzieren? Also recherchierten wir und begegneten recht bald Herma Kramm, der Chorleiterin, und ihrem besonderen Geschick, finanzielle Mittel für die Reisen des Chors einzuwerben. Offenbar war die Fahrt von 1959 bereits die zweite Reise des münsterschen Madrigalchors in die USA. Sowohl die erste Reise im Jahr 1957 als auch die zweite Fahrt waren zu unserem Glück durch den Landschaftsverband Westfalen-Lippe finanziell gefördert worden. Die entsprechenden Akten lagern bei den Kolleg*innen im LWL-Archivamt und waren für uns sehr aufschlussreich.

Spannend ist vor allem ein dreiseitiges Schreiben Herma Kramms an den LWL-Direktor Dr. Köchling vom 6. Juni 1959, in dem sie die Ziele der Reise darlegt: „Der münstersche Chor verbindet mit dieser an sich für kulturell-menschliche Beziehungen geplanten Reise ein ganz besonderes Anliegen: Er will diese Reise im Rahmen der „Wiedergutmachung“ einbeziehen, in dem er an Orten Konzerte durchführt für diesen ideellen Zweck.“ In dem Rahmen sei auch der Kontakt mit jüdischen Emigranten der NS-Zeit geplant. Auch betonte Kramm die positive Resonanz des Auswärtigen Amtes sowie des Bundespräsidenten Theodor Heuss.

Der LWL bezuschusste die Reise schließlich mit 4.000 DM und auch das Auswärtige Amt, das Kultusministerium, die Universität und die deutsche Wirtschaft spendeten hohe Summen. Der Bundespräsident steuerte sogar 1.000 DM aus seinem Privatvermögen bei. Der Eigenanteil der Studierenden lag bei ca. 400 DM, bei einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von 5.602,00 DM in Jahr 1959 eine beträchtliche Summe, die sie sich, so Kramm, in den Semesterferien erarbeiteten. Der genaue Flugpreis für das Jahr 1959 war pro Person übrigens nicht zu ermitteln, aus einer Kostenaufstellung der Reise aus dem Jahr 1957 ergibt sich jedoch ein Preis in Höhe von 1.208 DM. Es ist davon auszugehen, dass dieser zwei Jahre später vergleichbar hoch gewesen ist. Wegen der zahlreichen Spenden konnten die Gesamtkosten der Reise in Höhe von 116.218,55 DM nicht nur gedeckt werden, es wurde sogar ein Überschuss von 5.000 DM erzielt (z.B. durch Schallplattenverkäufe). Dieser Überschuss wurde im Anschluss an die Reise der jüdischen Kultusgemeinde in Münster zum Wiederaufbau der Synagoge gespendet.

Das Abenteuer USA

Das Abenteuer USA startete (nach Zwischenlandungen in Reykjavik und Goose Bay in Kanada) im Hotel Paris in New York. Bereits am ersten Tag nach der Anreise begannen die Konzerte: „Morgens Probe und Konzert im City College, dessen Gast wir mittags waren. Hinterher ‚Stunde der Begegnung‘ mit einigen College-Studenten. Abends kurze Probe und Konzert in der Townhall; nicht so gut besucht, aber herzlicher Beifall.“, notierte die damals 32jährige Renate Brockpähler am 1. Oktober. Am 3. Oktober ging es für die Gruppe nach Philadelphia, wo sie von der „German Society of Pennsylvania“ empfangen und in Gastfamilien untergebracht wurden. Ähnlich verlief es auch an den anderen Orten: Die Chormitglieder wurden entweder bei privaten Gastfamilien oder in den Colleges untergebracht. In Greensburg, Pennsylvania übernachteten sie bei Benediktinerinnen.

Der Chor sang religiöse und säkulare Lieder, unter anderen von Bach, Mozart, Johann Strauss und Carl Orff. In Renates Notizen, die dem Album beiliegen, ist meist die Rede von großer Begeisterung des Publikums.

Das Fotoalbum zeigt auch die kulturellen, landschaftlichen und städtebaulichen Unterschiede der verschiedenen Orte, die der Chor besuchte. Von zahlreichen Fotos New Yorks und Bildern eines Football-Spiels am Morningside College in Iowa über Zeugnisse vom „Cattle Brading“ und dem „Wilden Westen“ in Nebraska bis hin zu Eindrücken aus dem French Quarter in New Orleans – das Fotoalbum der Chorreise gewährt uns spannende fotografische Impressionen aus dem Amerika der späten 50er Jahre.

In ihren Tagebüchern, die Renate Brockpähler während ihrer Jugend in den 1930ern und 40ern schrieb, fällt bereits ein Interesse für das politische Geschehen auf, das sich, wenn auch nur in Form von kurzen Kommentaren, auch in dem Fotoalbum spiegelt. So findet sich auf der Seite des Besuchs am GustavusAdolphusCollege in Minnesota der Kommentar „das College mit den schlimmsten Pledges-Bräuchen“ neben einem Foto von Anwärterinnen für eine Sorority, einer Verbindung für Studentinnen, die Schilder mit der Aufschrift ‚I am a Pledge‘ tragen. Die „Pledges-Bräuche“ beinhalten zahlreiche demütigende Rituale für die Anwärterinnen, ehe diese in die Verbindung aufgenommen wurden. Zwischen den Seiten zu ihrem Aufenthalt in New Orleans (Louisiana) und Atlanta (Georgia) finden sich auf einer Seite mit dem Titel „Im Süden: Das Rassenproblem“ Fotos, die unter anderem die Schriftzüge an den Umkleidekabinen eines Schwimmbads zeigen: „Ladies“, „Men“ und „Colored“, außerdem Fotos afroamerikanischer Arbeiter, Kinder sowie eines obdachlosen Mannes. Auch in ihrem Gesamtbericht von der Fahrt, der dem Fotoalbum beiliegt, thematisiert Renate die „Pledges“ und Gespräche über „das Rassenproblem“ mit ihren „Hosts“ (Gastgebern).

Nicht nur hinsichtlich des Ansinnens von Herma Kramm, die mit der Chorreise in die USA auch eine „Wiedergutmachung“ für die Verbrechen des Nationalsozialismus intendierte, sind diese Reise und das darauf rekurrierende Fotoalbum von Renate Brockpähler großartige historische Zeugnisse der späten 1950er Jahre. Aus der Sicht einer jungen Deutschen dokumentiert das Album anhand einer Kombination aus Fotos, Postkarten, Konzertprogrammen, Zeitungsartikeln und Verpackungen von Konsumartikeln ein Amerika, das uns oft nur aus Filmen bekannt ist. Das Fotoalbum gewährt neben Fotos der Chormitglieder bei ihren Gastfamilien oder vor Sehenswürdigkeiten auch Eindrücke von Feiern und geselligen Abenden. Es spiegelt sowohl die Faszination, die Konsum- und Baukultur hervorriefen, als auch Kritik an den gesellschaftspolitischen Verhältnissen in den USA wider. Gerade die individuelle Zusammenstellung von Dokumenten und persönlichen Kommentaren macht das Album zu einer einzigartigen Quelle für eine durch die Verhältnisse in Deutschland geprägte Sicht auf die USA am Ende der 1950er Jahre.

 

Quellen und Literatur:

LWL-Archivamt für Westfalen, Archiv LWL, Best. 70/Nr. 815.

Fotoalbum: Archiv für Alltagskultur der Volkskundlichen Kommission Westfalen, Inv. Nr. 2074.

Herma Kramm: Angekommen. Als musikalische Botschafterin mit dem Madrigalchor durch die Welt. Hrsg. von Felizitas Rasch und Klemens Kramm, Münster 2000.