„Vielfalt und Differenzierung Westfalens“. Werner Freitags Landesgeschichte

26.03.2024 Niklas Regenbrecht

Einband Werner Freitag: Westfalen. Geschichte eines Landes, seiner Städte und Regionen in Mittelalter und Früher Neuzeit.

Timo Luks

Einer über 600-seitigen Landesgeschichte Westfalens in Mittelalter und Früher Neuzeit in einem kurzen Beitrag gerecht zu werden, ist im Grunde nicht möglich. Werner Freitags 2023 im Aschendorff Verlag erschienene Überblicksdarstellung nimmt eine thematisch breite Perspektive ein, auch wenn die Schwerpunkte im Feld der Territorial-, Stadt-, Kirchen- und Religionsgeschichte liegen. Andere Themenfelder bleiben nicht unberücksichtigt, werden aber – mit Ausnahme der Agrar- und Wirtschaftsgeschichte – deutlich knapper abgehandelt. Ich konzentriere mich auf drei Aspekte.

Erstens berücksichtigt Werner Freitag systematisch „die territoriale Vielfalt und Differenzierung Westfalens“. (S. 12) Für das Frühmittelalter zeichnet er das Bild einer Region, die „an vielen Punkten sächsisch besiedelt und geprägt [war], was nicht mit Einheitlichkeit zu verwechseln ist.“ (S. 28) Die ältere Rede von einem „Stamm der Sachsen“ habe regionale Unterschiede, Akkulturations- und Migrationsprozesse verschleiert. Freitag betont sprachliche Unterschiede sowie kulturelle Verflechtungen. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich das „Adelsland Westsachsen“ im Verlauf des 11. und 12. Jahrhunderts zu einem eigenständigen politischen Aktionsraum, dessen Akteure ihrem Selbstverständnis nach „nicht mehr Sachsen, sondern Westfalen“ waren. (S. 82f.)

Zweitens bezieht die Darstellung durchgängig Selbst- und Fremdzuschreibungen ein. Das ist nicht zuletzt bedeutsam, weil es zu einer kritischen Auseinandersetzung mit älteren Thesen einlädt, die den vermeintlich westfälischen „Stammescharakter als Erklärung für spezifische Erscheinungen des Wirtschafts- und Kulturlebens, der Handlungsmotivation und des Alltags“ heranzogen. (S. 17) Erst für das 15. und frühe 16. Jahrhundert lasse sich feststellen, „dass die Menschen Westfalen stärker als zuvor als räumliche Zuordnung und Selbstbezeichnung nutzten und nun auch über die Ursprünge Westfalens nachdachten.“ In diesen Ursprungsmythen wurde auf Stammeszugehörigkeit und christliche Mission rekurriert. Durch die Bekehrung hätten sich, so die Erzählungen, die Westfalen „vom heidnischen Erbe der Sachsen gelöst, ohne sächsische Tugenden (Treue, Charakterstärke, Tapferkeit) verloren zu haben. […] Zu Mut, Beharrlichkeit und Verlässlichkeit sei aufgrund der Bekehrung durch die Missionare und König Karl eine besonders intensive Frömmigkeit hinzugekommen.“ (S. 207)

Gleichzeitig strickten erste Autoren, etwa der Karthäusermönch Werner Rolevinck (1425–1502), am Widukindmythos, der über die Zeit zu einem westfälischen Erinnerungsort werden sollte. Schrittweise wurde Westfalen „als regionale Zuordnung und als Selbstverortung“ geläufig, und das verband sich mit einem „Wissen um die sächsische Vergangenheit und die Missionskriege König Karls“, das „von den gebildeten Eliten tradiert“ wurde. Als dann in den 1730er Jahren aus den Friedensschlüssen von Münster und Osnabrück der Westfälische Frieden wurde, war Westfalen, wie Werner Freitag schreibt, auch zu einer „Marke“ geworden. (S. 295) Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts arbeiteten zahlreiche Autoren im Kontext der Aufklärung dann an einem neuen Westfalenbild. In ihren Zeitschriften tauchte „Westphalen“ regelmäßig bereits im Titel auf. Diese Publikationen waren „auch ein klares Bekenntnis der Aufklärer, ihr Betätigungsfeld auf ganz Westfalen zu erweitern. Man dachte ‚gesamtwestfälisch‘, d. h. das preußische Westfalen, die nichtpreußischen Grafschaften. etwa Lippe, und die Fürstbistümer wurden zusammen gesehen. […] Dieses ganze Westfalen wurde […] mit einem Fortschrittsversprechen versehen. Das Bild unterschied sich von dem rückwärtsgewandten Westfalenmythos rund um Widukind und Karl den Großen“. (S. 617f.)

Drittens orientiert Werner Freitag seine Darstellung entlang der Wirtschaftsstruktur und Sozialverfassung. Er rekonstruiert die Transformationen einer Agrargesellschaft, die zunächst durch adelige und geistliche Grundherrschaft gekennzeichnet war. Insbesondere zeigt er, wie bedeutend das sogenannte Villikationssystem im Früh- und Hochmittelalter war. Dieses System bestand aus einem Haupthof, der von unfreiem Gesinde, Lohnarbeitern und dienstpflichtigen Bauern bewirtschaftet wurde, sowie diversen abhängigen Höfen unter der Leitung eines eingesetzten Verwalters, die Abgaben an den Haupthof leisteten. Das Villikationssystem „stellte in Sachsen für das 9. bis 13. Jahrhundert die wesentliche Grundlage der Agrarwirtschaft dar und erlaubte dem Adel und den Klöstern, Stiften und Bistümern die Bewirtschaftung und Kontrolle […] größeren Besitzes. Besitzakkumulation wurde erleichtert. Es unterwarf die vormals freien sowie die ‚nur‘ abgabenpflichtigen Bauernfamilien einem herrschaftlichen Zugriff.“ (S. 69) Im Verlauf des 13. Jahrhunderts wurde es durch Rentengrundherrschaft und Pachtwesen ersetzt. Das brachte eine Verschiebung von Naturalleistungen und Frondiensten hin zu Geldleistungen. Damit waren die Grundlagen einer agrarkapitalistischen Transformation gelegt, die regional allerdings unterschiedlich ausfiel.

Als in ökonomischer und sozialer Hinsicht eigentlicher Einschnitt wirkte – wie in anderen Regionen auch – „die an den Weltmarkt gekoppelte Protoindustrie“. Diese wies in den fraglichen (Teil-)Regionen, wie Werner Freitag zeigt, in Richtung einer kapitalistischen Vergesellschaftung. „Das Land war dort zugleich Ständegesellschaft und marktbedingte Klassengesellschaft.“ (S. 504) Innerhalb einer ausdifferenzierten Gewerbestruktur orientierte sich beispielsweise die Leinenherstellung, etwa in Lemgo oder Münster, früh an Exportmärkten, wurde unter Einbeziehung kaufmännischen Kapitals betrieben und profitierte erheblich von einer systematischen Gewerbeförderung, die „wichtiger Teil der auf den Westen bezogenen preußischen Maßnahmen“ war. (S. 442)

Werner Freitag gelingt es, die Formierung und den Wandel Westfalens als Region und historisches Territorium nachvollziehbar zu machen. Die Darstellung ist faktenreich, verliert sich aber nicht in Details. Es gehört zu ihren Stärken, eine erhebliche Materialfülle klar zu strukturieren und eine überzeugende Periodisierung zu entwickeln. Über einzelne Schwerpunktsetzungen könnte man diskutieren, etwa die Konzentration auf Territorialisierungsprozesse und damit auf politische Akteure, konkret: adelige und geistliche Eliten. Zwar finden sich immer wieder alltagsgeschichtliche Passagen, die auf die Lebensweisen verschiedener sozialer Milieus eingehen, doch bleibt das im Vergleich etwas blass. Dass Westfalen. Geschichte eines Landes, seiner Städte und Regionen in Mittelalter und Früher Neuzeit im besten Sinn als Überblick und Wegweiser überzeugt, soll damit aber nicht in Frage gestellt werden.

 

Literatur:

Freitag, Werner: Westfalen. Geschichte eines Landes, seiner Städte und Regionen in Mittelalter und Früher Neuzeit, Münster 2023.