Edersee statt Norwegen. Urlaub im Sommer 1939

12.12.2023 Niklas Regenbrecht

Idylle am Edersee im Reisealbum von Resi Fischer.

Niklas Regenbrecht

Eigentlich sollte es ja mit der „NS-Gemeinschaft Kraft durch Freude“ (KdF) Richtung Norwegen gehen. Wegen der „Unsicherheit im Zeitgeschehen“ wagte man sich dann allerdings nur bis zum nordhessischen Edersee. Worin diese Unsicherheiten bestanden und worin sie mündeten, war bereits klar, als die dreißigjährige Resi Fischer das Album über ihren elftägigen Sommerurlaub 1939 als Weihnachtsgeschenk für ihren Mann Kurt zusammenstellte: vom „Anschluss“ Österreichs im März 1938, der Besetzung des Sudetenlandes, dem Einmarsch ins Memelland und schließlich dem Beginn des Zweiten Weltkrieges am 1. September 1939.  

Bei dem überlieferten, in rotes Kunstleder eingebundenen Album mit dem Titel „Ferien 1939“ handelt es sich um eine selbstgefertigte Ringbindung im Format 18x25cm. Insgesamt 53 Seiten sind in einer druckschriftgleichen Handschrift beschrieben und mit Postkarten und Fotografien beklebt. Zusammen mit einem Reisealbum vom Steinhuder Meer aus dem Jahr 1940 und wenigen Korrespondenzen der ansonsten unbekannt bleibenden Resi Fischer befindet es sich als Nachlasssplitter im Archiv für Alltagskultur in Westfalen.

Statt wie erhofft eine der durchgeplanten Seereisen mit der NS-Gemeinschaft Kraft durch Freude zu unternehmen, ging es für das Ehepaar Fischer nun auf eigene Faust nach Hessen zum Edersee. Vom Wohnort Hamm reiste man per Bahn an. Mit dem „Pengel Anton“ ging es über Werl, Arnsberg, Bestwig und Brilon („durch eine der herrlichsten Kanten des Hochsauerlandes“). Die erste Ernüchterung stellte sich jedoch kurz darauf ein:

„… und dann kommt eine große Enttäuschung: Begeistert von den Höhen der Briloner Gegend stellen wir erschreckend fest, daß das Land von Station zu Station, deren es auf dieser Strecke bis Corbach langweilig viel gibt, mächtig abflacht. Die Höhenzüge bleiben immer weiter zurück, verschwinden schließlich in blauer Ferne, und vor unseren Augen breitet sich eine flache, kaum hügelige Gegend aus. Das ist nicht das, was wir suchen, und wenn es zur Eder hin nicht wieder schöner wird, wollen wir lieber nach Brilon umkehren.“

Zu allem Überfluss waren die Züge, in die das Paar umsteigen musste, auch noch völlig überfüllt. Doch als man schließlich in die Nähe des Edersees kam, stellten die Eheleute fest: „unsere Sorge um die geliebten Berge war umsonst. Gar bald sind wir im reizenden Ittertal. Hohe Berge mit prächtigen Wäldern säumen die Bahnlinie, neben uns schlängelt ein klarer Bach durch Wiesen und Buschwerk.“

Das Ziel der Reise war Herzhausen am westlichen Ufer des Sees. Dort angekommen mussten sich Resi und Kurt Fischer erst einmal um eine geeignete Unterkunft kümmern. In diesem Falle hieß das, zu Fuß mehrere Pensionen abzuklappern, um schließlich ein freies Zimmer zu finden. Bei der Reise zum Steinhuder Meer im folgenden Jahr war Resi Fischer im Übrigen besser vorbereitet, wie ihre überlieferte Korrespondenz mit Gasthöfen und Pensionen zeigt. Sie erfragte vorab postalisch freie Zimmer und Preise und konnte so – aus heutiger Sicht immer noch umständlich – bereits vor Ankunft ein Zimmer buchen.

Auf der Fotografie ist das Ehepaar Fischer mit anderen Feriengästen in der Wandelhalle in Bad Wildungen zu sehen. Im Text verstreut finden sich inhaltlich passende, selbstgezeichnete Piktogramme.

Der Text des Albums ist durchgehend ohne Gliederung oder Zwischenüberschriften verfasst. Er ist zwar nicht, wie etwa ein Tagebuch, nach einzelnen Tagen geordnet, beschreibt aber in chronologischer Reihenfolge die Aktivitäten der einzelnen Urlaubstage mit samt den eingenommenen Mahlzeiten. Gespeist wurde meist in der Pension. Die Mahlzeiten gliederten die Urlaubstage in einen Vor- und einen Nachmittagsausflug, mit zwischenzeitlicher Rückkehr zum Mittagessen (Rehbraten, Nudelauflauf, Bratkartoffeln).   

Aktivitäten unternahm das Ehepaar Fischer zusammen mit anderen Gästen der Pension. Diese Ferienbekanntschaften werden wie Vertraute beschrieben und mit entsprechenden Namen bedacht: Onkel Franz, Tante Adele, Oppa Winter, Fräulein Thöle und der Berliner. Geführt von „Oppa Winter“ unternahmen die Pensionsgäste „Pirschgänge“, die sich als abendliche Spaziergänge auf der Suche nach Rotwild herausstellten. Neben Ausflügen nach Waldeck (nebst Besichtigung der dortigen Burg) und Bad Wildungen, gehörten Spaziergänge und Wanderungen am Seeufer und im Wald zu den Hauptaktivitäten. Der Höhepunkt des Urlaubs, der auch die meisten Textseiten des Albums einnimmt, war ein Tagesausflug nach Kassel.

Nach der Besichtigung von Schloss Wilhelmshöhe in Kassel stieg die Reisegruppe die Treppenstufen zum Herkules herauf.

In Kassel standen die Besichtigung von Schloss und Schlosspark sowie das Erklimmen des Oktogons im Bergpark Wilhelmshöhe, auf dessen Spitze sich die berühmte Herkules-Kupferstatue aus dem frühen 18. Jahrhundert befindet, auf dem Programm. Auch ein Besuch der Kasseler Innenstadt war geplant. Dabei geriet die kleine Reisegruppe, bestehend aus den Ehepaaren Fischer, Fuchs und Müller, unbeabsichtigt in die Vorbereitungen des „Großdeutschen Reichskriegertages“, der vom 3. bis 5. Juni 1939 in Kassel veranstaltet wurde. Organisiert vom NS-Reichskriegerbund handelte es sich dabei um eine von Paraden und Aufmärschen geprägte nationalsozialistische Großveranstaltungen für Veteranen und aktive Soldaten. Die Reichskriegertage fanden in den Jahren 1935, 1936, 1937 und 1939 statt. Im Jahr 1939 nahm zum ersten Mal Hitler teil, zusammen mit angeblich 300.000 Teilnehmern.

„Wir nehmen direkten Kurs aus Wilhelmshöhe, da herrscht reges Leben; Arbeitsdienst, SA und SS-Bereitschaften sind hier einquartiert, alles in Vorbereitung auf den Empfang des Führers anläßlich des Reichskriegertages. Wir gehen zum Schloß hinüber, prächtig wirkt die lange Front mit den hochstrebenden Säulen und der breiten Freitreppe, majestätisch demgegenüber die Gestalt des Herkules über den Kaskaden. Einer gerade beginnenden Führung von Militär schließen wir uns an.“

Nach dem beschwerlichen Auf- und Abstieg zur Herkulesstatue, fuhr man in die bereits geschmückte Innenstadt. Eiscreme und Kriegermusikkapellen erhöhten hier die „Ferienfreude“. Besonders der Schmuck der öffentlichen Gebäude mit rotem Tuch und „Hoheitszeichen“ fiel Resi Fischer positiv ins Auge. Das in den Eintragungen transportierte Gefühl, einem historischen Ereignis beigewohnt zu haben, wertete den Aufenthalt in Kassel noch weiter auf.

Der Tagesausflug nach Kassel stand im Zeichen des vom NS-Reichskriegerbund veranstalteten vierten „Reichskriegertages“.

Den Abschluss des Urlaubs bildete eine Bootsfahrt auf dem Edersee, die die Reisenden bis zur Staumauer am anderen Ende des Sees führte. Hier zeigt sich, dass das Ehepaar Fischer bereits eine gewisse Expertise für Urlaube an Stauseen erworben hatte und die Reiseziele miteinander verglich:

 „Von den Grünanlagen unterhalb des Sperrmauer sind wir sehr enttäuscht, sie lassen jedes Gepflegtsein vermissen, da sind wir doch von der Möhnetalsperre her etwas Anderes gewohnt.“

Das Fazit der Reise fiel jedoch positiv aus. Das Album schließt mit dem Resümee:

„11 Tage an der Edertalsperre, ausgefüllt mit Wandern, Baden und Nichtstun. Schöner hätten wir sie [die Sommerferien] uns nicht wünschen können, Sonnenschein vom frühen Morgen bis zum Abend, vom ersten bis zum letzten Tag, und zwar so reichlich, daß wir uns manchmal aufrichtig ein Regenschauer gewünscht haben. Dazu diese herrlichen Wälder und diese abgeschiedene Stille, stundenlang konnte man wandern, ohne daß einem auch nur eine Menschenseele begegnete.

Das ist nun alles vorüber.“

Das Reisealbum von Resi Fischer zeigt beispielhaft, wie private Reiseerinnerungen in diesen Jahren kuratiert wurden. In diesem Fall stehen lange Textpassagen wenigen Postkarten und Fotos gegenüber. Letztere zeigen vor allem die besuchten touristischen Ziele und Landschaften. Von den 25 Abbildungen im Album zeigen nur drei überhaupt Personen. Der Text verzeichnet lückenlos, fast protokollartig, besuchte Orte, getroffene Personen und verspeiste Mahlzeiten. Die selbstgefertigte Bindung, die Umkettelung des Vorder- und Rückeinbandes und das ordentliche Schriftbild zeugen vom Aufwand bei der Anfertigung des Albums. Es wird deutlich, welche Art von Urlaubsreisen im Sommer 1939 möglich waren und auch was in dieser Zeit eine Ehefrau als passendes Weihnachtsgeschenk für ihren Ehemann ansah.

 

Quelle: Reisealbum „Ferien 1939“, Archiv für Alltagskultur in Westfalen, K03206.0000.  

 

Nachtrag: Der erwähnte Bericht der Reise zum Steinhuder Meer 1940 wird hier vorgestellt.