Bescherung vor aller Augen. Die Münsteraner und „ihre“ Verkehrspolizisten

15.12.2023 Niklas Regenbrecht

Timo Luks

Im Archiv der Kommission Alltagskulturforschung für Westfalen befinden sich einige Fotos vom Dezember 1958 und 1968. Sie dokumentieren einen Brauch, der nicht ganz leicht zu deuten ist: die Weihnachtsbescherung von Verkehrspolizisten, in Münster beispielsweise am Prinzipalmarkt.

Auf dem Prinzipalmarkt in Münster wurde bis 1968 der Verkehr durch einen Verkehrspolizisten geregelt. In der Vorweihnachtszeit überreichten ihm Autofahrer:innen Geschenke (Münster 1958, Foto: A. Risse, Archiv für Alltagskultur, Sign. 0000.69774).

Auf den Fotografien sind Bierkisten, Weinflaschen, Süßigkeiten usw. zu erkennen. Allem Anschein nach gut gelaunt, mit einnehmendem Lächeln regelt der Bescherte den Verkehr, während sich neben ihm Geschenke türmen. Gesäumt wird die Szenerie von zahlreichen Passantinnen und Passanten, die darauf warten, die Straße überqueren zu dürfen – dabei aber amüsiert und interessiert ein Schauspiel beobachten. Unterstützt durch Haltung und Gestik des Wachtmeisters bekommt das Ganze eine rituelle Anmutung, die einerseits Elemente der alltäglichen Routine in der Verkehrsregulierung aufgreift, diese andererseits aber auch bricht. „Am letzten Samstag“, so ein Zeitungsbericht der Westfälischen Nachrichten, „bot sich an den Hauptbrennpunkten des Verkehrs ein ungewohntes Bild. Menschenmassen stauten sich an den Ecken der Bürgersteige und schauten wohl noch nie mit solcher Aufmerksamkeit zu dem verkehrsregelnden Polizeibeamten wie an diesem Tage. Aber das weniger, freiwillig einen Verkehrsunterricht entgegenzunehmen, als vielmehr aus buchstäblicher Neugier; denn viele münsterische Kraftfahrer hatten das Bedürfnis, den Hütern der Ordnung, die Wind und Wetter im Interesse der öffentlichen Sicherheit trotzen, ihren Dank abzustatten. Und während es ansonsten nicht üblich ist, mitten im Schnittpunkt der Straßen zu stoppen, sich mit den Beamten zu unterhalten und ihnen die Hand zu reichen – an diesem Tage vor Weihnachten nahm man sich das Recht, ohne Protest von irgendeiner Seite zu erleben.“

Der kleine Brauch ist selbst zu einem Stück Münsterscher Erinnerungskultur geworden. In zeitgenössischen und späteren Schilderungen begegnet uns die lokale Version einer Weihnachtsgeschichte, die die Erinnerung an eine ‚gute alte Zeit‘ transportiert („Ein schöner Brauch in einer gemütvollen Zeit“, so die Westfälischen Nachrichten 2009). Etwas unbestimmt weist diese Erinnerung in die späten 1940er, 1950er und frühen 1960er Jahre. Am 24. Dezember 1968 war Schluss damit, aber offenbar aus anderen Gründen, als man bei dieser Jahreszahl denken mag. Nicht die Studentenbewegung, sondern eine neue Einbahnstraßenregelung auf dem Prinzipalmarkt, die einen Wachtmeister der Verkehrspolizei überflüssig machte, setzte der weihnachtlichen Bescherung ein Ende.

In einer Würdigung des Brauchs, die 2009 in den Westfälischen Nachrichten erschien, hieß es: „Sie mutet an wie ein Weihnachtsmärchen, eine Geschichte aus grauer Vorzeit, diese Bescherung am Heiligabend auf dem Prinzipalmarkt.“ Dann wird aber gar nicht so recht klar, worin das „Märchenhafte“ bestand: darin, dass ein Wachtmeister mit einigen Gesten virtuos Automobile und Fußgänger dirigierte – oder darin, dass Autofahrer kurz anhielten und ihm kleine Päckchen überreichten? 2009 war offenbar beides gleichermaßen exotisch wie erklärungsbedürftig geworden.

Im dichten Autoverkehr steht der Verkehrspolizist mit einem Berg an Geschenken, die ihm von Verkehrsteilnehmerinnen überreicht wurden, Münster 1958 (Foto: A. Risse, Archiv für Alltagskultur, Sign. 0000.69778).

Für die Beteiligten und zeitgenössischen Beobachter mag es überraschend gewesen sein, dass nun auch Wachtmeister der Verkehrspolizei in die weihnachtliche Bescherung einbezogen wurden. Als „Märchen“ ist es ihnen aber wahrscheinlich nicht vorgekommen. Dazu war die Praxis zu verbreitet und zu alltäglich, wenn auch in der Regel auf andere Berufsgruppen (Postboten, Müllwerker usw.) bezogen. Das war ein Relikt aus vergangenen Jahrhunderten als weihnachtliche Gratifikationen für Berufsgruppen wie Nachwächter, Hirten oder Türmer selbstverständlich waren und deren oft geringen Lohn aufbesserten. Es markierte aber auch einen Unterschied gegenüber Berufsgruppen, die das ganze Jahr über regemäßig mit Trinkgeldern rechnen konnten, etwa der Kutscher bei jeder Fahrt.

Die Einbeziehung eines Wachtmeisters der Verkehrspolizei in einen verbreiteten Brauch war allerdings voraussetzungsvoll. Zunächst machten das Datum und der von allen Beteiligten unmittelbar erkannte Weihnachtskontext deutlich, dass es sich nicht um ein gewöhnliches Trinkgeld handelte, mit dem eine bestimmte Dienstleistung entlohnt wurde. Dass Trinkgelder bei Polizeidienern (anders als bei Handwerkern oder sonstigem Dienstpersonal) inakzeptabel waren, verstand sich nicht von selbst, wie zahlreiche Beispiele aus dem 19. Jahrhundert zeigen. Weihnachtsgeschenk statt Trinkgeld – damit war klar, dass ein Wachtmeister Dienst an der Öffentlichkeit tat und nicht in einem individuell zu entlohnenden, persönlichen Dienstverhältnis (etwa mit Autofahrern) stand.

Die Bescherung wirft auch auf einer weiteren Ebene die Frage der Beziehung zwischen den Beteiligten auf. Denn sowohl in den anthropologischen Theorien der Gabe als auch in der Praxis von Polizeibehörden seit dem 19. Jahrhundert wurde und wird immer wieder betont, dass unterschiedliche Praktiken des Schenkens der Etablierung gegenseitiger Verpflichtungen dienen – und genau das sollte im Verhältnis von Polizei und „Polizierten“ gerade keine Rolle spielen. Wer ein Geschenk annimmt, der verpflichtet sich in dieser Logik zumindest moralisch zu einer Gegengabe. Dadurch entstehen persönliche Beziehungen und Abhängigkeiten. In der Geschichte der Polizei wurde das seitens der Behörden früh in den Kontext von Bestechung und Bestechungsversuchen gerückt. Die Lösung moderner Staaten besteht darin, die Beziehung zwischen Polizei und Bevölkerung in eine indirekte, kollektive und anonyme Beziehung zu verwandeln.

Auch an anderer Stelle in Münster erhielten die Verkehrspolizisten Geschenke (Vorweihnachtszeit 1968, Foto E. Obermeyer, Archiv für Alltagskultur Sign. 2009.00224).

Die Bescherung einzelner Verkehrspolizisten bricht nun offenkundig mit der Unterscheidung öffentlicher und privater Beziehungen. Das unscheinbare Ritual hat einen eigentümlich persönlich-unpersönlichen Charakter. Die Geschenke gehen zwar direkt von Hand zu Hand und erwecken so zunächst den Anschein einer unmittelbaren Beziehung (und Verpflichtung?), die dadurch geknüpft oder bekräftigt wird. Der öffentliche, fast rituelle Charakter der Übergabe – auch die Art der Geschenke und ganz sicher der Zeitpunkt – zerstreut diesen Eindruck allerdings sofort wieder. Öffentlichkeit und Einbeziehung in einen allgemeinen Weihnachtsbrauch beugen hier jedem Verdacht der Bestechung vor, dem sich beispielsweise die Überreichung einer Flasche Kräuterlikör an einen Polizisten ansonsten ausgesetzt gesehen hätte. Dem Verdacht der individuellen Bereicherung seitens des Wachtmeisters beugte dagegen die behördliche Praxis vor, die Geschenke wohltätig an Bedürftige weiterzugeben.

Der „Mü-po-Po“, Verkehrspolizist Karl-Heinz Gieseler, auf dem Prinzipalmarkt in Münster, Vorweihnachtszeit 1968 (Foto: E. Obermeyer, Archiv für Alltagskultur, Sign. 2009.00223)

All das deutet auf eine Grauzone sozialer Beziehungen hin, in der es nicht ganz unpersönlich, aber auch nicht allzu persönlich werden soll oder darf. Hier eine Balance zu finden, ist heikel – zumal dann, wenn sich die weihnachtliche Bescherung auf einen bestimmten Wachtmeister konzentriert, wie es in Münster, allem Anschein nach, der Fall war (wenn auch nicht ausschließlich): zunächst auf Josef Gerke, der seit Mitte 1948 an der Kreuzung Warendorfer Straße/Hohenzollernring den Verkehr regelte; dann auf Karl-Heinz Gieseler, der das gleiche jahrelang am Prinzipalmarkt tat. Aber auch hier zeigt sich eine gewisse Ambivalenz: auf der einen Seite zwei Verkehrspolizisten mit ihren persönlichen Eigenheiten und menschlichen Qualitäten; auf der anderen Seite der „Mü-po-Po“, Münsters populärster Polizist, als öffentliche Figur und Alltagsmythos einer Zeit, „als alles noch nicht so hektisch war wie heutzutage“.

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Schlagworte: Brauch · Timo Luks · Weihnachten