„Die vorteilhafteste und bequemste Form dieses Nachweises“. Ahnenpässe im Archiv für Alltagskultur

02.06.2020

Ahnenpässe aus verschiedenen Personenbeständen des Archivs für Alltagskultur in Westfalen. Foto: Regenbrecht/LWL.

Niklas Regenbrecht

In persönlichen Nachlässen ganz normaler Leute, wie sie im Archiv für Alltagskultur in Westfalen gesammelt werden, finden sich vielfach auch Familienunterlagen. Dazu zählen Briefe, Fotografien, Ausweise und Urkunden. Dazu gehören aber häufig auch Ahnenpässe und -tafeln aus der Zeit des Nationalsozialismus.

Kurz nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wurde regimeseitig damit begonnen, durch Abstammung begründete Ausgrenzung in die Gesetzgebung zu übertragen. Das fing an mit dem so genannten „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom April 1933 und wurde etwa in den Nürnberger Gesetzen weiter verschärft. In der Konsequenz mussten Angehörige bestimmter Berufsgruppen nachweisen, dass sie „arischer“ Abstammung waren, also keine jüdischen Vorfahren besaßen. Das galt etwa für Beamte, Ärzte, Juristen, Studenten oder Erbhofbauern, wobei sich die Zahl der Gruppierungen, für die entsprechende Regelungen eingeführt wurden, in den 1930er Jahren stetig vergrößerte. Viele private Organisationen, wie etwa Vereine, führten eigeninitiativ oder unter Druck ähnliche Vorgaben für ihre Mitglieder ein. Für die Vielzahl an NS-Organisationen galten sie sowieso. Dieser „Abstammungsnachweis“, umgangssprachlich auch „Ariernachweis“ genannt, bezog sich in der Regel auf die Eltern und Großeltern des Probanden. In Fällen des so genannten großen Abstammungsnachweises mussten Urkunden für alle am Stichtag 1. Januar 1800 lebenden Vorfahren beigebracht werden. Mitglieder bestimmter nationalsozialistischer Organisationen hatten den Nachweis bis zum Jahr 1750 zurückreichend zu erbringen. Die Datumsgrenze war zum einen arbeitspraktisch begründet, zum anderen ging man davon aus, dass nach 1800 die „Judenemanzipation“ eingesetzt habe, in Folge derer es zu „Vermischungen“ gekommen sei.

Viele Menschen mussten also bei verschiedenen Stellen und Institutionen ihre Herkunft nachweisen, wollten sie nicht ihre Karriere oder gar ihr Leben riskieren. In einem ersten Schritt musste diese Art von Herkunft erst einmal festgestellt werden, was zu einem Boom der Genealogie, in der zeitgenössischen Sprache „Sippenkunde“, führte. Viele Bürger fingen nun also an, auf eigene Faust oder mithilfe von spezialisierten genealogischen Vereinen, bei Pfarr- und Standesämtern Geburts-, Heirats- und Sterbeurkunden ihrer Vorfahren zu erfragen.

Um nun nicht bei jeder einfordernden Institution mit einem dicken Stapel an Urkunden oder großformatigen Ahnentafeln die eigene Abstammung nachweisen zu müssen, wurde gewissermaßen als handliche Variante der so genannte Ahnenpass gängig. Hierin mussten die Inhalte der Urkunden übertragen und anschließend beglaubigt werden. Der Erläuterungstext in einem Ahnenpass-Vordruck hielt dazu fest: „Um die große Wichtigkeit der Abstammungsverhältnisse eines Menschen hervorzuheben, verlangt der Staat bei zahlreichen Gelegenheiten den Ahnennachweis. Die vorteilhafteste und bequemste Form dieses Nachweises ist der amtlich beglaubigte Ahnenpaß.“ (Ahnenpaß, National-Verlag Westfalia, Dortmund)

Die Praxis der Abstammungsnachweise wurde, nicht zuletzt aufgrund des nicht zu unterschätzenden Aufwandes bei der Beschaffung der Urkunden, während des Krieges teilweise gelockert. In vielen Fällen begnügten sich die nachweisfordernden Stellen nun mit einer schriftlichen Versicherung der betreffenden Person, er oder sie sei „deutschblütiger Abstammung“. Eine Prüfung dieser Versicherungen wurde auf die Zeit nach dem Krieg vertagt.

Mit dem Ende des Krieges und des Nationalsozialismus wurde der konkrete Anwendungsfall der angefertigten Ahnenpässe und -tafeln obsolet. Der Grund, warum man sie hatte anfertigen müssen, wurde nun meist kritisch gesehen. Die Pässe und Tafeln selbst blieben aber häufig erhalten. Es wäre zu überlegen, ob man davon sprechen kann, dass diese Objekte gewissermaßen entideologisiert wurden. Als kompakte Zusammenstellung der Vorfahren einer Familie wurde ihr Informationsgehalt weiterhin sehr geschätzt. Unabhängig von ihrem Entstehungskontext stellen sie überhaupt erstmal eine Aufstellung der Mitglieder einer Familie dar. Auch heute ist der Fund eines alten familieneigenen Ahnenpasses für Nachgeborene oft Anlass für die Beschäftigung mit Vorfahren und Familiengeschichte. Der Informationsgehalt dieser Nachweise ist jedoch, in stärkerem Maße als bei Ergebnissen der Familienforschung, die aus anderen Motivationen entstanden, quellenkritisch zu betrachten. Da bei der Erstellung auf Seite der Individuen mitunter Zwang und möglichweise auch größeres Interesse an dem Erhalt des Nachweises als an einer wie auch immer gearteten historischen Wahrheit vorhanden gewesen sein mag, ist die Korrektheit der Angaben mindestens zu hinterfragen.

Die Ahnenpässe wurden anscheinend häufig zu dem Teil der materiellen Familienüberlieferung gezählt, der als aufbewahrenswert angesehen wurde. Über persönliche Nachlässe gelangen sie ins Archiv. Im Archiv für Alltagskultur für Westfalen werden Ahnenpässe und -tafeln als Teil von Personenbeständen für die Nachwelt erhalten, häufig neben den dazugehörigen Urkunden. Auf den ersten vergleichenden Blick fällt eine gewisse Verschiedenartigkeit der Ahnenpässe auf. Unterschiede gibt es zwischen schlichter und künstlerischer Gestaltung, verschiedenen Designs von enthaltenen Überblickstafeln, wie etwa Rundbögen oder klassischem Ahnentafelformat, und der Länge der erläuternden Texte und Hinweise. Diese erklären mal in eher sachlichem Ton die herrschende Gesetzeslage, mal sind sie deutlicher Ausdruck einer Blut-und-Boden-Ideologie. Gemeinsam haben die Pässe das an Din A5 angenäherte Format und den Aufbau im Hauptteil, der den beglaubigten Überblick über die Vorfahren des Eigentümers gibt. Die Vordrucke wurden von verschiedenen privaten und halboffiziellen Verlagen, sowie von NS-Institutionen, wie etwa dem NS-Lehrerbund oder dem Reichsnährstand, herausgegeben. Häufige Verwendung scheint ein Vordruck aus dem Verlag für Standesamtswesen gefunden zu haben.

Heute besitzen die nationalsozialistischen Ahnenpässe bei aller quellenkritischen Skepsis weiterhin ihren Wert für genealogische Forschungen. Sie zeigen aber auch den Zugriff des NS-Staates auf eine historische Hilfswissenschaft und deren Instrumentalisierung für die Ziele der Rassenpolitik. Durch Eintragung in einen „Pass“ und offizielle Beglaubigung wurden die Angaben über die Vorfahren gewissermaßen zu einer Tatsache gestempelt. Das Erstaunliche und Erschreckende bleibt: Das, was ein Kirchenbuchschreiber wenige Jahrzehnte oder Jahrhunderte zuvor als religiöses Bekenntnis von Täuflingen, Heiratenden und Verstorbenen festhielt, sollte für deren Nachkommen Generationen später mitunter lebensverändernde Konsequenzen haben. Und wer konnte etwa bei einem Geburtseintrag schon sagen, ob die im Kirchenbuch festgehaltenen Eltern auch den biologischen Tatsachen entsprachen?

 

Literaturhinweis:
Niklas Regenbrecht: Genealogische Vereinsarbeit zwischen Geschichtspolitik und populärer Forschung. Die Westfälische Gesellschaft für Genealogie und Familienforschung 1920–2020, Münster 2019.