Evangelisch im Münsterland – das Kirchspiel Schale

14.06.2022 Niklas Regenbrecht

Das Bauernhaus Große Dresselhaus in Schale, Foto: Andreas Eiynck.

Andreas Eiynck

Der nördlichste Ort im Münsterland – auf drei Seiten von Niedersachsen umschlossen – ist das Dorf Schale im Kreis Steinfurt mit seinen Bauerschaften. Seit dem 16. Jahrhundert bildet dieser Ort eine evangelische Insel im katholischen Umland, denn die umliegenden Kirchspiele Schapen, Freren, Fürstenau, Voltlage, Recke und Hopsten waren und sind allesamt katholisch geprägt.

Dabei gehörten große Besitzungen in Schale zu den ältesten Stiftungen für das Kloster Werden an der Ruhr, die auf Castus, einen Gefährten des Heiligen Ludgerus, zurückgehen. Eine andere vermögende Familie in Schale stiftete 1278 Güter für die Gründung eines Zisterzienserinnenklosters. Der Sage nach soll der Name dieses Klosters „ad scalam dei“ (= Himmelsleiter) dem Ort seinen Namen gegeben haben. Das ist nachweislich falsch, hat aber gleichwohl seinen Niederschlag im Gemeindewappen gefunden. In der Reformationszeit wurde dieses Kloster 1535 aufgehoben und aus der Klosterkirche eine Dorfkirche für das nunmehr evangelische Kirchspiel Schale.

Die evangelische Kirche in Schale, Foto: Andreas Eiynck.

Warum bei der Reformation des Ortes ein einziger Bauer katholisch blieb, wird in einer alten Sage erklärt: Die Bauern in Schale pflegten schon zu Zeiten der Reformation ihre Angelegenheiten auf dem Bauerntag zu beraten und nach den dort gefassten Beschlüssen gemeinsam zu handeln. Entscheidenden Einfluss auf ihre Beschlüsse hatte lange Zeit ein Bauer aus ihrer Mitte, der Kolon Dresselhaus. Er hatte manche Erfahrung gesammelt und wusste in schwierigen Tagen, wo keiner sonst den richtigen Ausweg zu finden vermochte, manchen guten Rat zu erteilen, der den Beifall aller fand und von allen befolgt wurde. Doch eines Tages entstand ein Streit mit Dresselhaus und dieser blieb fortan verärgert den Versammlungen fern.

Nun war wieder zu einem Bauerntag geladen, um einen schwierigen Fall zu beraten. Die neue Glaubenslehre war in das Land gedrungen, und die Bauern wussten nicht, wie sie sich verhalten sollten. Die Entscheidung wurde dadurch besonders schwierig, dass der Pastor zur neueren Lehre übergetreten war, der Kaplan und der Vikar aber treu an der alten Lehre festhielten. Die Bauern berieten lange, konnten aber zu keinem Entschluss kommen, ob sie dem Pastor oder dem Kaplan folgen sollten.

Der ältere Teil der Kirche stammt noch aus der Zeit des Zisterzienserklosters, Foto: Andreas Eiynck.

Da sahen sie in der Ferne den Kolonen Dresselhaus vorübergehen und beschlossen nun, ihm die Entscheidung zu überlassen und alle seinem Beispiel zu folgen und sich für den auszusprechen, für den er sich aussprechen würde. Es kostete einige Mühe, den alten Dresselhaus zum Betreten der Versammlung zu bewegen. Endlich kam er aber doch, wenngleich in seinen Zügen recht deutlich noch die Fortdauer des alten Zornes zu lesen war. Der schwierige Fall wurde ihm vorgetragen und er gebeten, zu erklären, wem er beitreten wolle, dem Pastor oder dem Kaplan, da seinem Beispiel das ganze Dorf folgen wolle. Alle erwarteten gespannt seinen Ausspruch. Ein boshaftes Lächeln umspielte seinen Mund, als er Folgendes sagte: „Wenn ihr dem Pastor folgt, folge ich dem Kaplan, folgt ihr aber dem Kaplan, folge ich dem Pastor.“ Sprach’s und ging.

Reformierte Abendmahlsgeräte in der Schaler Kirche, Foto: Andreas Eiynck.

Nur langsam erholten die Bauern sich von ihrer Überraschung. Endlich gelang es ihnen doch und sie fassten einen Beschluss, der sie gleich anfangs aus der Verlegenheit hätte retten können. Sie ließen das Los entscheiden, und dieses entschied für den Pastor. Seit jener Zeit sind sämtliche Kolonen des Dorfes Schale bis auf den heutigen Tag evangelisch, nur das Kolonat Dresselhaus (heute Bünker) ist immer noch katholisch.

So berichtet es die Sage, doch letztlich war es natürlich der Graf von Tecklenburg, der die Konfession seiner Untertanen bestimmte. Die Erben der Grafen von Tecklenburg, die Herren von Bentheim, waren Calvinisten und führten 1588 auch in Schale das reformierte Bekenntnis ein. So blieb es dort bis heute.

Die frühere Klostergemeinde mit ihren Bauerschaften hatte keine unmittelbare Landverbindung zur Grafschaft Tecklenburg, sondern war territorial von der Grafschaft Lingen sowie den Fürstbistümern Osnabrück und Münster umschlossen. Die Bewohner der umliegenden Dörfer und Bauerschaften waren fast ausnahmslos katholisch. Daher führte Schale seit der Reformation ein starkes Eigenleben. Die Heiratskreise blieben zumeist innerhalb der Gemeinde. Auswärtige Heiratspartner fand man in der Grafschaft Tecklenburg sowie bei den wenigen Familien mit reformiertem Bekenntnis in der Grafschaft Lingen.

Konfirmationsspruch von 1908, Foto: Andreas Eiynck.

Wirtschaftlich hatte der Ort wenig zu bieten. Viele Männer aus Schale mussten im 18. Jahrhundert alljährlich als Hollandgänger zur Saisonarbeit in die Niederlande ziehen. Einigen nachgeborenen Bauernsöhnen aus Schale gelang es im 17. und 18. Jahrhundert, sich auf frei gewordene Bauernstellen in der Grafschaft Lingen einsetzen zu lassen, denn dort wurden Protestanten bei der Besetzung der Höfe bevorzugt. Sie waren bei den katholischen Nachbarn alles andere als gut gelitten. Die Ehepartner suchten die evangelischen jungen Männer aus Schapen daher weiterhin in ihrer Herkunftsgemeinde Schale. Und so entstand bei den Reformierten in Schapen das Sprichwort: „Schale ist die Schwiegermutter von Schapen“, was in den meisten Familien über Generationen hinweg auch buchstäblich zutraf.

Zu der isolierten konfessionellen Situation kam und kommt in Schale die abseitige verkehrsräumliche Lage. Sie führte dazu, dass der Ort im 19. Jahrhundert den Anschluss an die modernen Verkehrswege verpasste und einen rein agrarischen Charakter behielt. Hohe Quoten von Ab- und Auswanderern waren die Folge. Etwa ein Drittel der Bewohner wanderten im 19. Jahrhundert nach Amerika aus.

Reformierte Familienbibel in der Übersetzung von Paul Tossanus, Minden 1716, Foto: Andreas Eiynck.

Bis heute wirkt sich auch die Grenzlage zu Niedersachsen nachteilig auf die Gemeinde aus. Hier enden der Regionalverkehr Münsterland sowie alle anderen Verkehrsverbünde. Daran erinnert im Dorfbild eine Busgarage mit Übernachtungsstation aus den 50er-Jahren, in der die Fahrer des letzten Busses aus Ibbenbüren übernachten konnten, um am nächsten Morgen frühzeitig den ersten Bus aus Schale in Richtung Münsterland zu steuern. Die nahegelegenen niedersächsischen Nachbargemeinden mit Schulen, Krankenhäusern und Sozialeinrichtungen waren und sind mit dem ÖPNV unerreichbar.

Die Einwohner von Schale waren im 19. Jahrhundert, wie in der gesamten Grafschaft Tecklenburg, preußisch gesinnt und kaisertreu. Die katholische Zentrumspartei hatte hier keine Chancen. Entsprechend schmerzhaft für alle Schaler war daher 1975 die Eingemeindung in die ebenfalls strukturschwache, aber rein katholisch geprägte Nachbargemeinde Hopsten. Und die tat auch lange Zeit wenig, um ihrer neuen Tochtergemeinde irgendwelche Entwicklungsperspektiven zu eröffnen – das Schicksal vieler „Ortsteile“ in Westfalen seit den 70er-Jahren. So schmolz die örtliche Infrastruktur im Laufe der Jahrzehnte immer mehr zusammen. Für die Nahversorgung sorgt heute ein genossenschaftlich betriebener Dorfladen. Hinzu kommen der Dorfgasthof und sogar zwei Bankfilialen. Hohe integrative Kraft für den Ort hat nach wie vor die evangelische Kirchengemeinde mit dem Kindergarten und der Grundschule. Die Gemeinde gehört heute zur unierten Evangelischen Landeskirche von Westfalen, ist aber nach wie vor dem reformierten Bekenntnis verpflichtet.

Literatur:

1100 Jahre Schale. Aus 7 Jahrhunderten einer ehemalischen Klosterkirche und ihres Kirchspiels. Herausgegeben von der Gemeinde Hopsten. Hopsten 1978.

Christa Tepe u.a. (Red.): Schale. Ein Dorf stellt sich vor. Herausgegeben von der Gemeinde Hopsten. Ibbenbüren 1991.

Christof Spannhoff: Von Schale bis Lienen. Streifzüge durch die Geschichte des Tecklenburger Landes. Norderstedt 2012.

Sebastian Kreyenschulte und Christof Spannhoff: Als Schale in das Licht der Geschichte trat. Beiträge zur Frühgeschichte des Ortes. Münster 2015.

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