Frauen, Hexen, Chemikerinnen. Eine „Dokumentation der Chemie-Frauengruppe“ an der Universität Münster (1984)

26.04.2024 Marcel Brüntrup

Timo Luks

Im Duisburger Archiv für alternatives Schrifttum wird eine kleine Broschüre aus dem Jahr 1984 aufbewahrt, wie es sie damals an jeder bundesdeutschen Universität zahlreich gegeben haben dürfte. Bevor Fachschaften – also die organisierten Vertretungen der Studierenden eines Fachs – die Möglichkeit hatten, auf Social Media-Kanälen Präsenz zu zeigen, tippten, kopierten, klebten und tackerten sie fleißig, um für die Kommiliton:innen Zeitschriften und Broschüren zusammenzustellen.

Hexenspiegel: Dokumentation der Chemie-Frauengruppe an der Universität Münster aus dem Jahr 1984 ist eine solche Broschüre: 28 Seiten, mit einem Einband aus rotem Karton. Inhaltsverzeichnis, Seitenzahlen und einige Kommentare und Sprüche sind handschriftlich eingefügt. Daneben finden sich eingeklebte und fotokopierte Bilder, Zeichnungen und Karikaturen, mit Schreibmaschine abgetippte Artikel und Buchauszüge sowie drei größere eigene Textbeiträge, die ohne Angabe der Autorin auskommen. Den Innentitel ziert ein Gruppenbild der „Chemie-Frauengruppe“ – neun Frauen, die sich mit Vornamen vorstellen.

Bei der Broschüre handelte es sich offenbar nicht um eine periodische Veröffentlichung mit allerlei Informationen aus dem Alltag einer Frauengruppe oder dem Chemiestudium, sondern um eine Zusammenstellung zu einem Schwerpunktthema: „Frauen in der Chemie“. Innerhalb dieses Rahmens ging es um feministische Naturwissenschaftskritik, die Situation von Chemiestudentinnen in Münster und die Berufsaussichten von Chemikerinnen.

Den Auftakt machte die Auswertung einer Erhebung zur Lage angehender Chemikerinnen an der Universität Münster. Es ging um das Geschlechterverhältnis in verschiedenen Arbeitskreisen, vor allem um die erheblichen Disparitäten (etwas günstiger in der Biochemie, deutlich ungünstiger in der Anorganischen Chemie), um das Arbeitsklima und um konkrete Erfahrungen mit sexistischen Bemerkungen und Verhaltensweisen. „Im Studium gab es aber einige männl. Kollegen, die uns ‚Mädels‘ lieber in der Küche als im Labor kochen sehen würden“, wurde aus einem Fragebogen zitiert. Berichtet wurde von Sprüchen aller Art, „das Übliche, was man als Frau überall zu hören bekommt.“

Im Rahmen feministischer, frauenbewegter Naturwissenschaftskritik waren im Hexenspiegel vor allem zwei Themen präsent:

Erstens ging es um die Art und Weise, wie Frauen in historischen Abrissen der Chemiegeschichte repräsentiert und herausgeschrieben wurden. In der Regel spielten Frauen dort – Stand Mitte der 1980er Jahre und sicher weit darüber hinaus – die Rolle von Ehefrauen oder selbstlosen Mithelferinnen. Dazu die Chemie-Frauengruppe: „Da stellt sich uns die Frage: Wäre die Forschungsarbeit vieler Männer überhaupt möglich ohne die selbstverständliche Verfügbarkeit über die Arbeitskraft der Ehefrauen, sowohl im privaten als auch beruflichen Bereich?“

Zweitens – und das ist der Kontext, in dem sich Chemie, Frauenbewegung und das Hexenthema begegnen konnten – widmete sich die Broschüre dem Verhältnis von Patriarchat und Naturbeherrschung sowie den Möglichkeiten einer feministischen Naturwissenschaft. Das spiegelte einerseits die Geschichte der Chemie samt konkreter Tätigkeiten von Chemiker*innen und andererseits Interessen und Perspektiven der Frauenbewegung der späten 1970er und frühen bis mittleren 1980er Jahre.

Dem mehr oder weniger ironischen Selbstverständnis der Akteur*innen zufolge, handele es sich bei der Chemie in historischer Perspektive um eine Wissenschaft, in der „gekocht“ wurde und werde. Chemiker – die männliche Form ist hier wichtig – tun also im Labor das, was außerhalb der Labore als weibliche Tätigkeit konnotiert war. Sie mischen Zutaten und verändern Rezepte, bis sich die gewünschten Ergebnisse zeigen. Über Feuerstellen hantieren sie mit Topfen, Tiegeln und Röhrchen. Das wiederum lässt so manches Chemielabor wie eine Hexenküche erscheinen. Die Chemie-Frauengruppe griff dieses Bild in ihrem Hexenspiegel offenkundig auf. Das wird zwar nicht explizit gemacht, ist unterschwellig aber präsent und repräsentiert bis zu einem gewissen Punkt wohl einen Commonsense.

Hinzu kommt eine auch von der Chemie-Frauengruppe geteilte, mehr oder weniger erfundene Tradition der Chemiegeschichte, die bestimmte, nicht im strengen Sinn wissenschaftliche, sondern eher handwerkliche Tätigkeiten für die Fachgeschichte vereinnahmte. In dieser Perspektive ließ sich einklagen, dass nicht nur experimentierende (männliche) Apotheker der Neuzeit, sondern auch eine mesopotamische „Parfümmacherin“, von der eine Keilschrifttafel berichtet, in die Geschichte des Fachs gehörten. „Die gefundenen Tafeln“, so klärte ein Beitrag im Hexenspiegel auf, „enthalten viele interessante Einzelheiten über die verwendeten Produktionsmethoden in der Parfümherstellung, von denen die wichtigsten die Destillation, Sublimation und Extraktion waren.“

Die Verdrängung dieser und anderer Frauen aus dem Bewusstsein und ihre „Vertreibung“ aus den verschiedenen Naturwissenschaften, so hieß es weiter, „fand bekanntlich in den Hexen-‚Verfolgungen‘ des Mittelalters ihren traurigen Höhepunkt: In dem Maße, wie das sog. ‚mechanistische Naturbild‘ an Bedeutung gewann, sank das Ansehen der Frau.“ Wie der Natur, so sollte auch den Hexen „unter Folter ihre Geheimnisse entrissen werden. Die Frauen/Hebammen/Hexen hatten das Monopol der Geburtshilfe/Geburtskontrolle, was ihnen Macht und Ansehen verlieh.“ In dieser Perspektive rückte das Konzept des Patriarchats in den Blick, verstanden als „Unterwerfung alles und aller Andersartigen“, „sei es in Gestalt von Frauen, anderen Völkern, anderem Gedankengut oder auch in Phantasiegestalten von fremden Planeten“. Statt Kooperation fänden sich überall Kampf und Konkurrenz. „Das, was als Ansatz von Frauen oder als weibliche Natursicht bezeichnet werden könnte, ist uns wahrscheinlich längst verloren gegangen.“ Dabei würde die Natur zum Objekt, das man in immer kleinere Ausschnitte zerlege, um es zu beherrschen. Demgegenüber gelte es, einer ganzheitlichen Naturbetrachtung wieder zu ihrem Recht zu verhelfen. „Wie kann eine solche Naturwissenschaft nun wirklich aussehen?“, fragte Claudia Ratering in ihrem zitierten Beitrag weiter. „Es kann vielleicht bedeuten, sich in ein Maisfeld zu legen, sich in die wachsende Pflanze hineinzufühlen und die jumping genes zu entdecken. Es kann vielleicht bedeuten, uraltes Wissen über Heilmethoden auszugraben und künftig Krebs und Bauchweh mit Hypnose, kalten Umschlägen und Diät zu behandeln. Oder es kann bedeuten, daß für alles, was wir mit Ernten, Kohleabbau etc. unserer Mutter Erde rauben, wir uns rituell bedanken und etwas zurückgeben müssen. Viele von uns haben Schwierigkeiten mit all dem, was unter den Begriff ‚Magie‘ paßt. Alles das, was nicht mit patriarchaler Naturwissenschaft zu erklären ist, ist auch für uns magisch, ist Zauberei und damit Unsinn. […] Von den gelernten Vorurteilen gegen Zauberei und ähnliches werden wir uns schon lösen müssen, wenn wir auf die Suche gehen nach neuen (oder alten!) Arten der Naturbetrachtung. Der Weg führt ins Fremde. Und gegen den mechanistischen Zeitgeist.“

Der Deutungsrahmen, der hier Patriarchat, Naturverhältnisse und Naturbeherrschung, Hexen und Magie zusammenbringt, ist zeittypisch. Die Dokumentation der Chemie-Frauengruppe verwies etwa auf Carolyn Merchants The Death of Nature: Women, Ecology and the Scientific Revolution (1980). Die zeitgenössische Hexenforschung und auch populäre Hexendiskurse deuten in eine ähnliche Richtung. So landeten die Bevölkerungswissenschaftler Gunnar Heinsohn und Otto Steiger 1979 beispielsweise einen Bestseller, der einen Zusammenhang zwischen Hexenverfolgung, Geburtenkontrolle und Bevölkerungspolitik herstellte. Als Hexen, so das Argument, seien gezielt Hebammen und „weise Frauen“ verfolgt worden – mit dem Ziel, ein bestimmtes Wissen über Empfängnisverhütung und Abtreibung zu vernichten.

Weit weg von derart einseitigen und in vielerlei Hinsicht problematischen Deutungen hat die Soziologin Claudia Honegger 1978 eine wirkmächtige und bis heute überzeugende Analyse vorlegt, die den Hexenglauben als ein kulturelles Deutungsmuster interpretierte. Honegger hat darin unter anderem aufgezeigt, wie dieses Deutungsmuster das Verhältnis der Menschen zu ihrer inneren wie auch der äußeren Natur regelte, aber auch wie soziale und ökonomische Umbrüche des Mittelalters zunächst einen „antipatriarchalischen Aufbruch der Frau“ brachten, der in der Frühen Neuzeit unter anderem in Form der Hexenverfolgung rückgängig zu machen versucht wurde. Fragen der Naturbeherrschung und der Erklärung von Naturphänomenen spielten dabei keine unwichtige Rolle.

Die Bedeutung, aber auch die Vielschichtigkeit der Behandlung des Hexenthemas innerhalb der Zweiten Frauenbewegung der 1970er und 1980er Jahre ist kürzlich noch einmal von Clara Charlotte Uhlhorn herausgearbeitet worden. Die Spannung, die sie dabei identifiziert hat – einerseits eine neue akademische Hexenforschung, andererseits ein neuer Hexenkult, einerseits rationalistische, andererseits romantische Deutungen – durchzieht auch den Hexenspiegel der Chemie-Frauengruppe an der Universität Münster. Dadurch wird die kleine Broschüre zu einer ebenso spannenden wie aufschlussreichen zeithistorischen Quelle.

Quellen und Literatur:

Heinsohn, Gunnar/Steiger, Otto: Die Vernichtung der weisen Frauen. Hexenverfolgung, Kinderwelten, Menschenkontrolle, Bevölkerungswissenschaft, Herbstein 1985 [1979].

Hexenspiegel: Dokumentation der Chemie-Frauengruppe, Münster [1984], 28 Seiten, Archiv für alternatives Schrifttum (Duisburg), Signatur: BRO.II.2662.

Honegger, Claudia: Die Hexen der Neuzeit. Analysen zur Anderen Seite der okzidentalen Rationalisierung, in: dies. (Hrsg.): Die Hexen der Neuzeit. Studien zur Sozialgeschichte eines kulturellen Deutungsmusters, Frankfurt am Main 1978, S. 21–151.

Uhlhorn, Clara Charlotte: Mit Hexen zur feministischen Emanzipation? Die „Renaissance“ des Themas Hexenverfolgung innerhalb der Zweiten Frauenbewegung der 1970er- und 1980er-Jahre, in: Arbeit – Bewegung – Geschichte 21 (2022), S. 45–69.

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