„Indoarisch“ – Einblicke in Frageliste 42 („Fahrende Leute“), Teil 3

15.09.2023 Marcel Brüntrup

„Zigeunerlager“, Alhorn 1927, Foto Hermann Reichling (Archiv für Alltagskultur, Inv. Nr.: 0000.07193)

Timo Luks

Die Fragelisten und Berichte, die im Archiv der Kommission Alltagskulturforschung für Westfalen gesammelt sind, tragen zu einer Vielfalt von Themen unzählige Beobachtungen bei, die in der Regel durch einen relativ strikten Ortsbezug gekennzeichnet sind. Mehrheitlich berichteten die Gewährspersonen, was sie in ihrem jeweiligen Heimatort einmal selbst erlebt oder gehört hatten.

In einzelnen Fällen ließen Gewährspersonen es sich aber nicht nehmen, allgemeine Überlegungen beizufügen, die zwar mit dem Thema zu tun hatten, jedoch nicht mehr lokal rückgebunden waren. In den Berichten zu „fahrenden Leuten“ finden sich Ausführungen, bei denen jemand explizit zu volks- und völkerkundlichen Reflektionen vordrang – und damit wiederum auf die Präsenz eines entsprechenden Wissens in unterschiedlichen Milieus hinwies.

In einem Bericht aus Dortmund (Archiv für Alltagskultur; MS05756), wurden die in der Frageliste angesprochen Kategorien „fahrender“, oder wie es im Bericht hieß: „unsteter Leute“ aufgegriffen („Eisverkäufer, Wahrsager, Zigeuner, Bettler, wandernde Handwerksburschen und dergl.“), dann aber bemerkt, dass diese „nicht immer so ohne weiteres nach Herkunft, Absichten und Wesensmerkmalen eingeschätzt und unterschieden werden“ könnten. Der Berichterstatter erachtete derartiges implizit aber für wünschenswert und einer wissenschaftlichen Erhebung – die er allem Anschein nach auch als „rassenkundliche“ Klassifikation verstand – angemessen.

„Ein besonderes Kapitel“ bildeten für ihn „jene fremdrassigen Leute, die heute bereits mancherorts im Volkskörper integriert sind: die Zigeuner.“ Abgesehen davon, dass ein weiteres Mal die Fortdauer von Begriffen und Wahrnehmungsmustern erkennbar ist, die auf die Zeit des Nationalsozialismus verweisen, ist der Bericht in anderer Hinsicht interessant. Er führte nämlich zunächst an, dass man sich vor den „Zigeunern“ fürchtete und den Kindern „einst wahre Schauergeschichten von ihrer unberechenbaren Wesensart, ihren Diebstählen, ihren mittelalterlichen Raubzügen und ihrer unzivilisierten Lebensführung“ erzählte (siehe www.alltagskultur.lwl.org/de/blog/die-angst-der-bauern/). Dann jedoch verschob sich die Perspektive. Die Gewährsperson präsentierte sich als volkskundlich aufgeklärt und rückte damit in Distanz gegenüber derjenigen Gesellschaft, aus der heraus und über die berichtet wurde. Die „Meinung über eine dem hiesigen Volke und seiner traditionsverbundenen Kultur mit herkömmlicher Gesittung fremden Lebensform“, so hieß es, lasse sich mit „Unwissen und Emotionen“ erklären, „die sich aus der Rassenverschiedenheit herleiten“. Dem folgte ein Kurzportrait der Sinti und Roma, das so in volks- und völkerkundlichen Lehrbüchern hätte stehen können. „Denn die Zigeuner“, so führte der Bericht aus, „sind ihrer Abstammung nach ein asiatisches Wandervolk, ihre Urheimat ist Indien, ihre Sprache indoarisch mit fremden Einschlägen. Klein von Gestalt, dunkelhaarig, glutäugig, mit brauner Hautfarbe, verkörpern sie einen Menschenschlag, der in seiner buntfarbigen, andersartigen Kleidung und fremdartigen Lebensweise (früher waren sie in ihren kleinen Wohnwagen fast beständig unterwegs von Land zu Land) den Anlaß dazu gibt, in ihnen ein Völkchen zu sehen, das seine Eigenart ganz besonders hartnäckig bewahrt und verteidigt.“

Das konzeptionelle Koordinatensystem liest sich wie die Zusammenfassung einer langen Geschichte volks- und völkerkundlicher Wissensproduktion: das Pendeln zwischen den Kategorien „Rasse“ und „Volk“ (ergänzt um das „Völkchen“!); die Profilierung von Sprache, Kleidung und Lebensweise als „völkischer“ Marker; der Verweis auf Indien und die „indoarische“ Herkunft. Die These eines „indoarischen Volks“, das im Rahmen der Völkerwanderung nach Europa gekommen sei, hatte Ende des 18. Jahrhunderts als kritisches Korrektiv der älteren Idee gedient, bei Sinti und Roma handle es sich lediglich um das „Ferment der zusammengelaufenen Unterwelt des Verbrechens“ (Klaus-Michael Bogdal). Die Indoarier-These war also offenkundig langlebig und kaum wieder zum Verschwinden zu bringen.

Literaturhinweis:

Klaus-Michael Bogdal: Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung, Berlin 2014.

Teil 1: Die Angst der Bauern – Einblicke in Frageliste 42 („Fahrende Leute“)

Teil 2: Hausfrauen, Bäuerinnen und Pfeife rauchende Frauen – Einblicke in Frageliste 42 („Fahrende Leute“)

Kategorie: Aus unserer Sammlung

Schlagwort: Timo Luks