Die Angst der Bauern – Einblicke in Frageliste 42 („Fahrende Leute“), Teil 1

27.06.2023 Marcel Brüntrup

Abb. 1: „Hermann Reichling – Begegnungen unterwegs: Romafamilie bei Ahlhorn, Mai 1927“; Archiv für Alltagskultur; 0000.07194

Timo Luks

Im Archiv der Kommission Alltagskulturforschung für Westfalen befinden sich 6.600 Berichte zu verschiedenen Aspekten des Alltagslebens. Die zwischen 1951 und 1982 verfassten Berichte sind der Ertrag einer volkskundlichen Erhebungs- und Dokumentationsmethode, die in den 1950er Jahren nach skandinavischem Vorbild in Westfalen etabliert wurde. Dabei wurden „Gewährspersonen“ Fragelisten zu bestimmten Themen zugesandt – mit der Bitte um längere zusammenhängende Ausführungen, die vor allem eigene Erlebnisse und Beobachtungen schildern sollten.

Frageliste 42 – aus dem Jahr 1974 – widmete sich dem Thema „Fahrende Leute“. Die Liste betonte, dass die Kategorie mehrere Gruppen umfasste, und zu jeder erbat man gesonderte Schilderungen. Die Kommission interessierte sich für „1. Hausierer, 2. Flicker u. ä. (Schirmflicker, Wannenflicker, Scherenschleifer, Topfflicker, Klüngelkerle), 3. Leute, die für Unterhaltung sorgten (Bärentreiber, Drehorgelmänner, Moritatensänger, sonstige Musikanten), 4. Zigeuner, Wahrsager, Heilkundige, Bettler, auch wandernde Handwerksburschen.“. Damit war der Ort markiert, an dem man Mitte der 1970er Jahre „Zigeuner“ sah.

In den 59 eingegangenen Berichten finden sich erwartbare Klischees und abwertende Charakterisierungen, die teilweise Echo der rassistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus sind, gleichzeitig aber auf ältere Vorstellungen und Praktiken der Ausgrenzung von Sinti und Roma verweisen – eine Bezeichnung, die in keinem der Berichte verwendet wird.

Abb. 2: „Hermann Reichling – Begegnungen unterwegs: Romafamilie in der Nähe von Borghorst, Februar 1927“; Archiv für Alltagskultur; 0000.07196

Aufschlussreich sind die Berichte mit Blick auf eine Facette bäuerlicher Mentalitätsgeschichte: eine früh erlernte Angst, die sich nicht auf „fahrende Leute“ im Allgemeinen, sondern auf „Zigeuner“ im Besonderen richtete. Der Logik der Fragemethode folgend, waren es Männer und Frauen in fortgeschrittenem Alter, die sich durch die Fragen angeregt an ihre Kindheit und Jugend erinnerten. Eine der Fragen hieß: „Was erzählte man den Kindern über sie? Hielt man die Kinder von ihnen fern, besonders von den Zigeunern?“ Die Frage danach, was man Kindern erzählte, wurde auch für „Hausierer“ gestellt – diejenige nach dem Fernhalten der Kinder nicht. Der Akzent legt nahe, dass in der bäuerlichen Welt die Angst regierte; und zahlreiche Antworten bekräftigen diesen Eindruck. Hier einige Beispiele:

„Ein paar Tage vor und nach den Markttagen standen einige Zigeunerwagen, die man an den weißen, bogenförmig gespannten Planen von weitem erkannte, auf der Landstrasse bei uns an einer Quelle. Dann hieß es für uns: Türen schließen! Denn vor den Zigeunern hatte Groß und Klein Angst.“ (Archiv für Alltagskultur; MS05131)

„Einige unserer Mägde wußten Schauergeschichten von den Zigeunern zu erzählen z. B. daß sie Kinder entführten.“ (ebd.; MS05139)

„Vor den Zigeunern wurden die Kinder gewarnt.“ (ebd.; MS05235)

„Uns Kindern hatte man mit den Zigeunern das Fürchten gelehrt: Kinder mitnehmen, Stehlen, Betrügen, Schmutz – das alles verband sich mit dem Zigeuner.“ (ebd., MS05457)

„Natürlich hat man uns Kinder vor den Zigeunern gewarnt.“ (ebd., MS05716)

Es ist aus der Perspektive der Historischen Anthropologie müßig, danach zu fragen, ob die berichteten Ängste tatsächlich „gefühlt“ wurden. Entscheidend ist, dass die Gewährspersonen diese sehr spezifische Angst Jahrzehnte später als wichtigen Teil des kindlichen Gefühlhaushalts identifizierten und an keiner Stelle zu einer distanzierenden, etwa ironischen Position fanden, die man als Erwachsener doch gegenüber Geschichten ausbilden kann, mit denen „wir als Kinder bange gemacht“ (ebd., MS05479) wurden.

Angst ist hier von Anfang an als etwas Erlerntes erkennbar, das Form annimmt, weil spontanes Erleben durch Geschichten, Anekdoten, eigene und fremde ‚Erfahrungen‘ strukturiert wird. Es handelt sich um eine generationenübergreifende und immer wieder stabilisierte Angst. Als soziale Tatsache zeitigte sie Konsequenzen und motivierte ein Spektrum bäuerlicher Reaktionen auf Sinti und Roma: vom Sich-Fernhalten über das Sich-Einschließen – bis hin zu tödlichen Schüssen auf eine junge Romni, die sich 1972 in einem Dorf in Oberbayern ereignet hatten und kürzlich durch den Historiker Hans Woller mustergültig aufgearbeitet wurden.

Literaturhinweise:

Sauermann, Dietmar: Volkskundliche Forschung in Westfalen 1770–1970. Geschichte der Volkskundlichen Kommission und ihrer Vorläufer, Münster 1986.

Woller, Hans: Jagdszenen aus Niederthann. Ein Lehrstück über Rassismus, München 2022.

Teil 2: Hausfrauen, Bäuerinnen und Pfeife rauchende Frauen – Einblicke in Frageliste 42 („Fahrende Leute“)

Teil 3: „Indoarisch“ – Einblicke in Frageliste 42 („Fahrende Leute“)

Kategorie: Aus unserer Sammlung

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