„Gedenkt unserer Kolonien“. Kolonialrevisionismus auf Notgeldscheinen (Teil 1)

24.03.2023 Niklas Regenbrecht

Christiane Cantauw

Über einen gemeinsamen Aufruf „Koloniales Erbe vom Dachboden: angeschaut und nachgefragt“ der Kommission Alltagskulturforschung des LWL und des Westfälischen Heimatbunds gelangte ein Notgeldalbum in die Kommission, das hunderte verschiedener Serienscheine enthält. Unter ihnen finden sich auch drei Serien – zwei aus jeweils sechs, eine aus acht Scheinen bestehend –, die in Zusammenhang mit dem deutschen Kolonialismus und Kolonialrevisionismus stehen.

Seit den 1880er Jahren brachte auch das Deutsche Kaiserreich ausländische Territorien als sogenannte Schutzgebiete in seinen Besitz, um dort eigene Stützpunkte für Militär und Kolonialwarenhandel aufzubauen, die vor Ort vorhandenen natürlichen Ressourcen auszuplündern und einen Absatzmarkt für deutsche Produkte zu schaffen. Dies ging mit der Unterwerfung, der Vertreibung und der Ausbeutung der dortigen Bevölkerung einher. Ein Ende fand der deutsche Kolonialismus durch Artikel 119 des am 28. Juni 1919 unterzeichneten Versailler Vertrags, der Deutschland den Verzicht auf sämtliche überseeische Gebiete auferlegte. Das Reichskolonialministerium wurde trotz des Verlustes aller Kolonien nicht abgeschafft. Als Kolonialabteilung wurde es im April 1920 dem Reichsministerium für Wiederaufbau angegliedert und vier Jahre später ins Auswärtige Amt überführt. Mit dem Ende der Kolonialherrschaft nahm in Deutschland eine Bewegung ihren Anfang, die sich die Rückgewinnung der Kolonien zum Ziel gesetzt hatte. Sie wurde vor allem von (Kolonial)Vereinen und Verbänden sowie Vertretern der Wirtschaft und der Finanzwelt, aber auch von einer Vielzahl von Politikern fast aller Parteien getragen. Ihr kolonialrevisionistisches Engagement schlug sich in Ausstellungen, (Lichtbilder)Vorträgen, öffentlichen Feiern, Romanen, Bildbänden, Filmen und auch in der Edition von Serienscheinen nieder, die sich bei Sammlerinnen und Sammlern großen Zuspruchs erfreuten.

Der Einband des Albums von Herrn N. zeigt bereits, zu welchem Zweck es gedacht war. (Foto: Cantauw, Kommission Alltagskulturforschung)

Ein „Notgeld“-Album

Das Album, dem die hier untersuchten Serienscheine entnommen wurden, stammt aus dem Besitz von Herrn N., der es vor einigen Jahrzehnten einer Zufallsbekanntschaft abgekauft hatte. Die in goldener Schrift aufgeprägte Zuordnung „Notgeld“ lassen den Schluss zu, dass es sich bei dem 33,5 mal 25 Zentimeter großen Album um ein kommerzielles Produkt handelt, welches speziell für das Sammeln von Serienscheinen angeboten wurde. Das Album besteht aus 30 gebundenen Seiten, die mit Vorrichtungen zum Einstecken der Serienscheine versehen sind. Alle Seiten des Albums sind komplett angefüllt mit Einzelscheinen oder Serien. Die Scheine haben eine Größe von 10 mal 6,5 Zentimeter und sind sämtlich unbenutzt – angesichts ihrer Funktion als Sammelobjekt ist dies nicht überraschend. Viele Seiten enthalten 20 und mehr Scheine. Die Mehrheit der Scheine stammt aus den Jahren 1921 bis 1922. Zu dieser Zeit hatte die Ausgabe von Notgeld als Ersatz für das offizielle Geld längst ein Ende gefunden. Einzelne Städte, Gemeinden oder Vereine ließen nach 1919 jedoch künstlerisch gestaltete Serienscheine drucken, die von vielen Zeitgenossen und -genossinnen gesammelt wurden. Als Geldersatz waren sie seit dem 17. Juli 1922 verboten.

Die Vorderseite der sechs Serienscheine zeigt den Umriss des afrikanischen Kontinents. (Foto: Alltagskulturarchiv, LWL)

Der „Deutsch-Hanseatische Kolonial-Gedenktag“ und sechs Personenportraits

75 Pfennig war der Nennwert jedes einzelnen der sechs Serienscheine, die laut recto (Vorderseite) am 30. März 1922 ihre Gültigkeit als „Kolonial-Gutschein“ verloren. Herausgegeben wurde die sechsteilige Serie anlässlich des Deutsch-Hanseatischen Kolonialgedenktages. Bei diesem handelte es sich nicht um einen einzelnen Gedenktag, sondern um eine Art Label für verschiedene Veranstaltungen im Raum Hamburg – Bremen im Zeitraum zwischen dem 4. November 1921 und dem 31. März 1922, beispielsweise eine musikalisch umrahmte koloniale Gedenkfeier in Hamburg am 7. November 1921 oder ein Bazar in Bremerhaven vom 18. bis 25. März 1922. Veranstalter waren die jeweiligen Ortsgruppen des 1882 gegründeten Deutschen Kolonialvereins.

Die Gestaltung der Vorderseite der sechs Serienscheine zeigt auf zwei Drittel der zur Verfügung stehenden Fläche den Umriss des afrikanischen Kontinents, in den die ehemaligen deutschen Kolonien eingezeichnet wurden. Eine Bildlegende klärt darüber auf, was gemeint ist: „Togo Kamerun Deutsch Südwest Deutsch Ostafrika 1884 – 1918“. Eingerahmt sind die Zeichnung und die Legende von zwei Palmen und einer Agave. Unterhalb findet sich die Beschriftung „Deutsch-Hanseatischer Kolonial-Gedenktag Hamburg Berlin Bremen“. Es folgen ein Hinweis auf die Gültigkeitsdauer (bis 31. März 1922) des Serienscheins, der Nennwert sowie die Unterschrift von Franz Grewe.

Als große Hafenstädte und Handelsmetropolen waren Hamburg und Bremen/Bremerhaven wichtige wirtschaftliche Zentren des europäischen Kolonialismus. Zahlreiche bauliche Zeugnisse wie das Hamburger Rathaus oder der Elefant in Bremen zeugen noch heute davon. In Berlin waren die politischen Weichen für den deutschen Kolonialismus gestellt worden.

Rückseitig sind auf den sechs Serienscheinen die Konterfeis von kaiserzeitlichen Prominenten aus Politik, Militär und Wirtschaft platziert, die durch ihr direktes oder indirektes Engagement in und für die Kolonien in den 1920er Jahren bekannt waren. (Foto: Alltagskulturarchiv, LWL)
Die Rückseite dieses Serienscheines zeigt den Reichskanzler Otto von Bismarck umgeben von Eichenlaub. (Foto: Alltagskulturarchiv, LWL)

Verso (rückseitig) sind auf den sechs Serienscheinen die Konterfeis von kaiserzeitlichen Prominenten aus Politik, Militär und Wirtschaft platziert, die in den 1920er Jahren allesamt durch ihr direktes oder indirektes Engagement in den Kolonien bekannt waren. Im Einzelnen handelt es sich um Carl Woermann (11.3.1813 – 25.6.1880; Überseekaufmann, Reeder), Adolf Lüderitz (16.7.1834 – 24.10.1886; Kaufmann, u. a. erste Landbesitznahme in Südwestafrika), Paul von Lettow-Vorbeck (20.3.1870 – 9.3.1964; Soldat, u. a. beteiligt am Völkermord an den Herero und Nama, letzter Kommandeur der Schutztruppe Deutsch-Ostafrika), Hermann von Wissmann (4.9.1853 – 15.6.1905, Forschungsreisender in Zentralafrika, u. a. Befehlshaber der ersten deutschen Kolonialtruppe, die in Afrika Krieg führte), Dr. Carl Peters (27.9.1856 – 10.9.1918; Publizist, Rassist, u. a. Begründer der Kolonie Deutsch-Ostafrika) und Otto von Bismarck (1.4.1815 – 30.7.1898; Politiker, erster Reichskanzler des Deutschen Reichs). Die auf den in lindgrün und braun gehaltenen Serienscheinen zentral platzierten Portraits werden umrankt von unterschiedlichen überwiegend exotischen Pflanzen: Zu sehen sind Dattelpalmen, Tabakpflanzen, Bananenbäume, Kakaobäume und Kokospalmen. Sie stehen stellvertretend für die Naturprodukte, die man in den Kolonien – meist in Form von Plantagen – angebaut hatte. Die hübsch anzusehenden Palmwedel, Bananenbüschel, Tabakblätter und Kakaobohnen zeigen nicht, welch ungleiche wirtschaftliche Beziehung sich hinter dem kolonialen Handel mit ihnen verbarg. An der Ausbeutung der Arbeitskräfte und der Plünderung der natürlichen Ressourcen in den Kolonien verdienten ausschließlich die Kolonialherren: Aktiengesellschaften, Handelskompagnien, Transportunternehmen, weiterverarbeitende Betriebe (in Deutschland) und viele mehr. Damit sie einen möglichst großen Gewinn erwirtschaften konnten, bedurfte es aber auch militärischer Macht und Machtdemonstrationen – auf den Serienscheinen symbolisiert durch Kriegsverbrecher wie Paul von Lettow-Vorbeck oder Hermann von Wissmann.

Ursächlich für den Aufschwung, den das koloniale Engagement im Deutschen Kaiserreich nach 1884 genommen hatte, war allerdings ein Politikwechsel, den der damalige Reichskanzler Otto von Bismarck mit seiner Einladung zur sogenannten Kongo-Konferenz 1884 eingeleitet hatte. Auf dieser Konferenz, an der verschiedene europäische Länder, die USA und das Osmanische Reich, nicht aber Vertreter afrikanischer Staaten teilnahmen, legte das Deutsche Kaiserreich seine anfängliche Zurückhaltung ab und beteiligte sich offiziell am Abstecken von nationalen Einflusssphären auf dem afrikanischen Kontinent. Dass Bismarck – mit Eichenlaub umgeben – also die Serie vervollständigt, ist dementsprechend folgerichtig.

Die Kolonialbewegung arbeitete daran, die recto formulierte zeitliche Eingrenzung (1884 – 1918) rückgängig zu machen. Das zeigt sich auch an der verso formulierten Aufforderung „Gedenkt unserer Kolonien“, mit der alle Portraits untertitelt wurden. Die Erinnerung daran wach zu halten, dass die auf der Karte eingezeichneten Gebiete „unsere“ Kolonien waren und wieder werden sollten, dafür engagierten sich die Kolonialrevisionist:innen!     

 

Fortsetzung folgt...