Sebastian Schröder
Am 6. November 1766, eine halbe Stunde vor Mitternacht, wurden dem Adligen Ernst Idel Jobst von Vincke, Erbherr des Rittergutes Ostenwalde und Domdechant zu Minden, und dessen Gattin Louisa Sophia von Buttlar zu Ermschwert eine Tochter geboren. Bei ihrer Taufe erhielt sie die Namen Ernestina Amalia Louise Wilhelmine – oder kurz: Louise. Die frischgebackenen Eltern waren natürlich gespannt und neugierig, wie sich ihr Kind im Laufe der nächsten Jahre entwickeln würde. So engagierten sie einen Hellseher, der vorgab, die Zukunft vorhersagen zu können. Der Deuter erkannte vor seinem inneren Auge eine „mittelmäsige Persohn, geschickt in allen Sachen, mageres Leibes, und länglichen Angesichts, tiefe Augen, schmale Stirn, und längliche Nase, roth und weis im Gesicht, schwartzgelbe Zähne, ist sehr zum Zorn geneigt“. Keine rosigen Aussichten: Aber immerhin sollte die junge Dame einst reich heiraten und zahlreiche Kinder bekommen – jedoch mehr Jungen als Mädchen, prophezeite der Hellseher. Des Weiteren warnte er, dass Louise sich vor Wasser in Acht nehmen müsse. Außerdem solle sie giftige Tiere meiden. Ein sonderlich hohes Alter erreiche die Frau adliger Herkunft nicht. In ihren letzten Lebenswochen würden ihre Lebensgeister immer mehr entweichen; hinzu kämen die Folgen eines Hundebisses. Tatsächlich verlief Louises Leben selbstverständlich ganz anders, als kurz nach ihrer Geburt vorausgesagt worden war. Sie verstarb im Jahr 1834 – ohne Mann, Kinder und auch ohne Hund. Denn den Bund der Ehe schloss sie nie. Stattdessen schlug sie eine Laufbahn als Stiftsdame in Quernheim ein. Nur wenige Wochen nach ihrem sechsten Geburtstag ließen sich ihre Eltern schriftlich von den Quernheimer Stiftsfrauen versichern, dass Louise nach dem Verzug, der Verheiratung oder dem Versterben einer der bisherigen geistlichen Damen an deren Stelle nachrücken durfte. Früh sein lohnte sich, denn die begehrten Posten waren rar und heiß begehrt. Wer wusste schon, ob es mit dem erträumten reichen Ehemann wirklich klappte? Das Stift bot in diesem Fall für die Töchter adliger Häuser ein standesgemäßes Auskommen. Außerdem stellte der Gang ins Stift keineswegs eine ewige Abkehr von allem Irdischen dar. Anders als gemeinhin angenommen, durften die frommen Frauen die geistliche Institution durchaus verlassen, sie reisten, genossen weltliche Annehmlichkeiten und verkehrten in adligen Kreisen, etwa auf Bällen oder Empfängen. Wenn dann doch einmal ein schmucker Junggeselle um die Hand einer Dame anhielt, konnte es durchaus sein, dass die Stiftsfrau ihr Habit gegen das Brautkleid tauschte.
Nicht so Louise von Vincke: Sie blieb dem Stift seit ihrem offiziellen Eintritt im Jahr 1776 treu; 1795 rückte sie sogar in die oberste Leitungsfunktion auf und agierte seitdem als Äbtissin. Ihre Großmutter freute sich sehr, als sie von dieser Nachricht erfuhr: „Alles erdenkliche Glück u[nd] den besten Seegen des Himels wünsch ich dir zu deiner neuen Laufbau als Frau Äbtißinn. Ich hofe, ein so gutes Mädchen, wie du bist, wird gewiß Ihren Pflichten all obliegen und sie zu erfüllen suchen.“ In früheren Jahren, um 1780, hatte sich bereits Louises Mutter Louisa Sophia von Buttlar sehr lobend zu Wort gemeldet. Ihr „Louischen“ sei ein hübsches Mädchen mit einer „natürlich guten Stimme“. Zudem habe sie ihren Tagesrhythmus derart geordnet, „daß sie einen jeden Augenblick benutzt und dadurch ein sehr thätiges Leben führt.“ Zwar kleide sich Louise „immer proper und anständig“, insgesamt jedoch lege das Fräulein keinen übermäßig großen Wert auf ihr Äußeres. Statt sich zu schminken, unterstütze sie lieber Hilfsbedürftige oder mache anderen Menschen durch Geschenke eine Freude. Überhaupt sei ihre Tochter sehr einfühlsam, betonte die Mutter. Wohl auch deshalb könne man sich keine bessere Freundin vorstellen; selbst wenn es ein wenig dauere, bis Louise jemanden vollends in ihr Herz geschlossen habe.
Dennoch gab es den 1810er-Jahren mehrere Ereignisse, die die Äbtissin tief bedrückten. Was sorgte die reiselustige und wissbegierige Dame, die vordergründig ein sorgenfreies Leben zu führen schien? Die Antwort auf diese Frage wird an dieser Stelle noch nicht verraten. Nur so viel sei gesagt: Die ersten Jahre des 19. Jahrhunderts führten zu bahnbrechenden gesellschaftlichen und sozialen Veränderungen – in Europa, Westfalen und auch in Quernheim. Nichts war mehr so, wie es ein halbes Jahrhundert zuvor – bei Louises Geburt – noch gewesen war. Die Biographie von Louise von Vincke, dem Mädchen aus adligem Hause, die als fromme Frau im Stift wirkte, zeugt geradezu idealtypisch von dieser Epoche des Umbruchs und des Wandels. Wer diese Dame näher kennenlernen und wissen möchte, was sie zu berichten hat, dem sei ein Besuch des Geschichtsfestes in Stift Quernheim am 29. und 30. März 2023 empfohlen. Denn dort tut Louise von Vincke das, was sie zeit ihres Lebens liebte: Sie reist – diesmal in die Vergangenheit . Sie erzählt von schweren Krisen, beglückenden Momenten und wahren Gefühlen.
Zuerst erschienen in: HF-Magazin. Heimatkundliche Beiträge aus dem Kreis Herford, Nr. 122, 14.09.2022, herausgegeben von der Neuen Westfälischen.