Von Lungensuppen, Talismanen und Wochen-Küchenzetteln

26.06.2020

Der Einband des Haushaltungskalenders aus dem Jahr 1905. Der Kalender wurde zwischen 1893 und 1911 herausgegeben. Foto: Schulte/LWL.

Von Lungensuppen, Talismanen und Wochen-Küchenzetteln

Der Haushaltungskalender der Companie Liebig aus dem Jahr 1905

Kathrin Schulte

Ein Lasso schwingender Cowboy auf einem galoppierenden Pferd steht im Mittelpunkt des reich mit Jugendstil-Dekor verzierten Einbands eines Haushaltungskalenders der Companie Liebig. Das Büchlein hat 75 Seiten, ist Teil eines Nachlasses einer ehemaligen Mitarbeiterin der Kommission Alltagskulturforschung und wurde bei der Suche nach Kochbüchern als vorletzter der 52 Treffer durch das Archivprogramm ausgegeben.

Der Haushaltungskalender gibt sich den Anschein eines nützlichen Helfers im Alltag: Auf den ersten Seiten findet sich ein Kalender mit den katholischen Namenstagen, gefolgt von katholischen und jüdischen Festtagen sowie einer Terminierung der vier Jahreszeiten. Auch verfolgte das Büchlein wohl edukative Anliegen:  Auf 12 Doppelseiten werden nebst je einer Seite für Notizen verschiedene Baustilepochen wie Gotik oder Barock vorgestellt.  Die Darstellungen der verschiedenen Architekturstile befinden sich auf der jeweils linken Seite und sind mit einem kleinen Kalender ausgestattet, der auch die Mondphasen abbildet. Die jeweils rechte Seite bietet Platz für Notizen und ist mit dem im Stil der Bauwerke entsprechend verzierten Schriftzug „Notizen“ betitelt.

Gebäude im modernen Baustil sowie eine Seite für Notizen - hier zeigt sich auch die Funktion des Büchleins als Kalender, der auch die Mondphasen beinhaltet. Foto: Schulte/LWL.

Auf die Notizseiten folgt die Kurzgeschichte „Der Talisman“, verfasst von Dr. Julius Bentzinger, in der es um einen Justizrat und seine Frau geht, die gegen den Ratschlag ihres alten Freundes, eines Gymnasialprofessors, in ein kleines Dorf ziehen. Der Gymnasialprofessor fürchtet nun, dass die gute Küche, die er im Hause des Justizrats genossen hat, unter dem Umzug leiden könnte. Die Frau des Justizrates beruhigt ihn jedoch mit einem Verweis auf ihren Talisman. Als der Professor die Familie einen Monat später in ihrem neuen Domizil besucht, wird ihm ein exquisites Mahl serviert, was er auch lobend zum Ausdruck bringt: „‘Ein Göttermahl. Jedes Gericht von ganz exquisitem Wohlgeschmack. Sie müssen in der Tat eine ‚Küchenfee’ haben, gnädige Frau, die Ihnen hilfreich zur Seite steht.‘ – ‚Nur mein Talisman.‘“ Auf Nachfrage erklärt die Frau des Justizrats, worum es sich bei ihrem Talisman handelt: Liebig’s Fleischextrakt. Dieser sei zur Zubereitung verschiedener Speisen bestens geeignet und auch ihr Mann, der Justizrat, nehme den Fleischextrakt mit zu seinen Wandertouren in die Alpen.

Die Kurzgeschichte aus der Zeit um die Jahrhundertwende liest sich wie ein Werbespot für das Produkt. Ganz nebenbei kommen hier die um die Jahrhundertwende in bürgerlichen Kreisen gültigen Geschlechterrollen zum Ausdruck, wenn etwa der Justizrat seine Frau, nachdem diese detailliert die gesundheitlichen Vorteile des Fleischextraktes erläutert hat, fragt: „Alle Wetter, Frauchen, das wird aber unheimlich! Wo hast du denn das gelehrte Zeug her?“. - Die Informationen bekam sie übrigens durch einen Vortrag, dem sie im Frauenbildungsverein lauschte.

Im hinteren Teil des Kalenders finden sich schließlich Rezepte für Suppen, Vorspeisen, Hauptspeisen und Salate. Natürlich enthält jedes der Rezepte, sei es ein einfacher Salat oder die Lungensuppe, Liebig’s Fleischextrakt. Hinzu kommen Wochenpläne zur Planung der Mahlzeiten. Ein äußerst praktischer Kalender für die moderne Hausfrau also.

 

Doch was hat es mit dem Fleischextrakt auf sich?

Liebig’s Fleischextrakt geht auf den Chemiker Justus Liebig (1803 – 1873) zurück, der 1847 durch das Eindampfen von Rindfleisch Fleischextrakt herstellte und diesen ab 1864 in Uruguay industriell herstellen ließ. Der Fleischextrakt, der nach wie vor im Handel erhältlich ist, wurde trotz seines vergleichsweise hohen Preises zum Verkaufsschlager, weil er für eine für eine weniger zeit- und personalaufwändige, praktische und dementsprechend moderne Hauswirtschaft stand

Zur Popularität des Fleischextrakts trug nicht zuletzt auch die kluge Werbestrategie der Firma Liebig bei: In Anlehnung an die damals beliebten illustrierten Verpackungen von Nähgarn, Schokolade und weiteren Produkten wurden Sammelbilder hergestellt und dem Produkt beigelegt. Dabei handelt es sich um bunte Chromolithographien, auf deren Rückseite Werbe- und Informationstexte abgedruckt waren. Erstmals erschienen die Liebigbilder 1872 in Frankreich, wenige Jahre später wurden sie auch in anderen Ländern ausgegeben und entwickelten sich schnell zu beliebten Sammelobjekten. Sie erschienen in Serien von drei bis zu 24 Bildern und waren bei Sammlern sehr begehrt, so dass einzelne Serien sogar Liebhaberpreise von bis zu 300 Goldmark erzielten. Zu den Bildern wurden im Handel auch Sammelalben angeboten. . Bei einer solchen Sammelleidenschaft ist es nicht verwunderlich, dass auch Fälschungen grassierten und weitere Firmen auf den Zug aufsprangen. 

Die Liebigbilder waren von Künstler*innen gestaltet worden, von denen nur wenige namentlich bekannt sind. Bereits um 1900 erreichten sie eine Auflage von drei Millionen Stück. Zunächst zeigten sie eher kindliche, humoristische Darstellungen, ab der Jahrhundertwende erhielten sie jedoch auch eine edukative Funktion, indem auf der Rückseite der Bilder erklärende Texte zu den Abbildungen abgedruckt wurden. Die Themen der Bilderserien reichten von der heimischen Tierwelt bis hin zu den Göttern der Antike und umfassten historische, literarische und naturkundliche Wissensgebiete.

Die Ausgabe der Bilder wurde in Deutschland 1940 eingestellt, in Italien erst 1975. Zwar dezimierte der Zweite Weltkrieg die Zahl der Liebigbilder und Alben, dennoch sind sie auch derzeit noch erhältlich – auf Online-Verkaufsportalen werden teilweise fast vierstellige Beträge bei vollständigen Alben verlangt.

Haushaltungskalender wie der im Archiv für Alltagskultur gab es etwa seit den 1893. Jedes Jahr wurde ein neues, aufwändig gestaltetes Exemplar herausgegeben, das Rezepte, Kurzgeschichten rund um den Fleischextrakt und Wissens- und weniger Wissenswertes enthielt.

Auch die Werbestrategie der Firma Liebig, die einen aufwändig gestalteten Alltagsgegenstand wie den Haushaltungskalender mit Rezepten zu Werbezwecken einzusetzen, findet sich gegenwärtig noch: So gibt es Kochbücher von Küchengeräteherstellern oder Lebensmittelfirmen, in denen die Produkte der jeweiligen Firmen natürlich eine herausragende Rolle spielen.  Angesichts im Internet kostenlos verfügbarer Rezepte ist der (praktische und ideelle) Wert solcher Werbegeschenke allerdings vergleichsweise geringer. 

Literatur: Pieske, Christa: Das ABC des Luxuspapiers. Herstellung, Verarbeitung und Gebrauch 1860 bis 1930. Berlin 1983 (Schriften des Museums für Deutsche Volkskunde Berlin, Band 9).