Alltagsleben im Ravensberger Land. Eine Fotosammlung der 1930er/1940er Jahre im Archiv des LWL-Medienzentrums für Westfalen

24.06.2025 Niklas Regenbrecht

Lutz Volmer

Wohl in den Jahren 1939/40 erstellte der Amateurfotograf Reinhold Budde in den Dörfern um Enger im Kreis Herford, einem Ort mitten im Ravensberger Land, mehr als 600 fotografische Aufnahmen unterschiedlichen Formats. Er dokumentierte damit das, was er als Rest traditionellen Lebens und Arbeitens auf dem Lande ansah. Die Bilder zeigen historische Hofanlagen, Landschaften, Menschen im Alltag, Arbeitsvorgänge, Arbeits- und Nutztiere. Sie wirken auf den ersten Blick harmlos und politisch unverdächtig. So unverdächtig sind sie aber nicht – allein schon, weil sie die kulturpessimistische und völkische Sichtweise des Fotografen aufnehmen.

Feldarbeit unterhalb der Windmühle in Enger: Nicht Pferde sind angespannt, sondern Kühe (Sammlung Budde-Ehlers, LWL-Medienzentrum für Westfalen).

Reinhold Budde: eine ambivalente Persönlichkeit

Wie sind die Bilder entstanden? Reinhold Budde (1904-1968) kam aus Enger im Kreis Herford. In den 1920er Jahren war er dort als Kaufmann tätig. In der Weltwirtschaftskrise 1929 verlor er seine Arbeit und schulte an der Evangelischen Wohlfahrtsschule Berlin zum Sozialarbeiter um. In seinen Heimatort zurückgekehrt, arbeitete er ab 1932 als Wohlfahrtspfleger und ab 1939 als Sozialamtsleiter sowie „Volkspfleger“. 1933 trat Budde der NSDAP bei, was vermutlich bei der Beförderung zum Sozialamtsleiter eine Rolle gespielt hat, dann aber 1945 zu seiner Amtsentlassung führte.

Budde war kulturell interessiert und engagiert und stand möglicherweise vor allem dem evangelisch-konservativen Milieu nahe. Er veröffentlichte in der NS-Zeit über lokalgeschichtliche Themen in der lokalen Tageszeitung Herforder Kreisblatt. Darunter befindet sich auch ein Stadtrundgang für Touristen. Darin beschreibt Budde detailreich die Kirche mit dem Grabmal des Herzogs Wittekind, der dort im 9. Jahrhundert gelebt haben soll. Im Rahmen von Zeitungsartikeln befasste er sich auch mit handwerksgeschichtlichen Themen.
Zwischen 1938 und 1948 filmte Budde – mit maßgeblicher Unterstützung und im Auftrag der Stadt Enger – eine Reihe von offiziellen Ereignissen in der Stadt. Das waren überwiegend Veranstaltungen der NS-Machthaber, so die Eröffnung der „Widukind-Gedächtnisstätte“ – ihre Einrichtung war durch einen Besuch der NS-Größe Himmler angestoßen worden –, der Besuch der „Alten Garde“ der NSDAP und ein „Jubelschützenfest“.

Eine Dokumentation traditioneller Alltagskultur

Reinhold Budde hatte eine genaue Vorstellung davon, was er fotografieren wollte. Es ging ihm um Ausprägungen traditioneller und ländlich-bäuerlicher Alltagskultur im Amt Enger.
Gegenstände seines Interesses waren die ältesten Häuser, Gehöfte mit ihrem Bewuchs, die umliegenden Felder, die Innenräume mit Möbeln und Arbeitsgeräten, aber auch (traditionelle) Kleidung und Schmuck. Besonders umfangreich berücksichtigte er immaterielles Kulturerbe: Arbeitstechniken der Landwirtschaft, die er in Fotoserien dokumentierte, und Landhandwerke sowie Alltags- und Festtagsbräuche. Die Bilder zeigen einen antimodernen Blickwinkel. Buddes Dokumentationen sind bewusst selektiv: „Unpassende“, „moderne“ Dinge wie Neubauten aus der Boomphase des Kaiserreichs, Autos, Lastwagen und Verkehrsanlagen, moderne Industrieanlagen oder Industriearbeitsplätze werden ausgespart. All das kommt nicht vor. Menschen in moderner Kleidung konnte Budde allerdings nicht immer vermeiden.

Budde hat sein selektives Vorgehen, seinen besonderen Blick auf Vergangenes, nicht selbst erdacht. Er hat sicherlich Veröffentlichungen gekannt, die mögliche Motive zeigten, die zu einer Dokumentation gehören konnten, wie er sie plante. Den wissenschaftlichen Hintergrund dazu bot das, in den 1930er Jahren noch neue, Universitätsfach Volkskunde. Die Volkskunde suchte Kulturgüter, materielle und immaterielle, vor allem im ländlichen Raum, wo man glaubte, mehr als in der Stadt altartige, „ursprüngliche“ Kulturphänomene finden zu können. Der geschichtliche und gesellschaftliche Hintergrund wurde vernachlässigt, das Bild einer geschichtslosen Vorzeit gezeichnet. Die auf die Gegenwart gekommenen, materiellen und immateriellen Relikte aus der Vergangenheit galt es vermeintlich zu retten bzw. zumindest zu dokumentieren. Dem im Kollektiv auftretenden „entwurzelten“ Städtern sollten die Menschen auf dem Land als bodenständige und naturverbundene Vertreter:innen eines germanischen Volkstums gegenübergestellt werden. Diese Sichtweise war aus der sogenannten Heimatschutzbewegung heraus entstanden und passte zur „Blut- und Boden“-Ideologie des NS-Regimes. Eher ausgeblendet, wurde dabei die ländliche Lebensrealität, die sich mit der Industrialisierung eingestellt hatte. Die harte und schlecht bezahlte Arbeit in der Landwirtschaft war schon lange nicht mehr sonderlich attraktiv. Durch die Verbesserung ihres Images und Sozialprestiges sollte dem entgegengewirkt werden.

Schweinehaus und Backhaus von Hof Heining in Schröttinghausen (heute Stadt Werther). Derartige Kleingebäude waren schon in den 1930er Jahren selten geworden. So war es nur konsequent, dass später Josef Schepers, der erste Leiter des LWL-Freilichtmuseums Detmold, beide Häuser für sein Museum sicherstellen ließ (Sammlung Budde-Ehlers, LWL-Medienzentrum für Westfalen).

Aus welchen Orten stammen die Bilder? Lokalisiert sind fast alle Bilder in Enger und den Bauerschaften des Amtes Enger, damals neun selbstständige Gemeinden (heute zusammen: Stadt Enger). Budde ging jedoch oft auch darüber hinaus, etwa nach Exter und Hiddenhausen (Kreis Herford), nach Jöllenbeck, Schildesche, Stieghorst (Bielefeld), ins Bauernhausmuseum Bielefeld sowie nach Schröttinghausen (Kreis Gütersloh) und Preußisch Ströhen (Kreis Minden-Lübbecke). Er wollte offenbar auf diese Weise seiner Sammlung Motive hinzufügen, die so selten geworden waren, dass er sie in Enger nicht mehr vorfand. Beispielsweise fotografierte er im Bauernhausmuseum Bielefeld eine wertvolle „Leineweber“-Tracht, mit der er die Kleidungsgewohnheiten der Zeit um 1800 veranschaulichen konnte. Mit dem Hof Rolfing in Preußisch Ströhen dokumentierte er ein Haus, das über Jahrzehnte hinweg nicht modernisiert worden war und damals viel beachtet wurde.

Deele des Hofes Rolfing in Preußisch Ströhen mit einer Kochmaschine des 19. Jahrhunderts (Sammlung Budde-Ehlers, LWL-Medienzentrum für Westfalen).

Die Gegenwart der NS-Diktatur brach immer dann unvermittelt in die Bildersammlung Buddes herein, wenn er offizielle Veranstaltungen der lokalen „Kulturpflege“ dokumentierte. Hierzu zählten die bereits erwähnte Eröffnung der „Widukind-Gedächtnisstätte“, der Bau des Kriegerdenkmals, Fotos von Kranzniederlegungen an Gräbern, eine Militärparade, möglicherweise 1940, die „Westfalen-Fahrt“ der „Alten Garde“ 1939, ein Jubiläums-Schützenfest und schließlich, nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes, auch die 1000-Jahrfeier der Stadt Enger 1948.

Künstlerische Aspekte

Ein Bemühen um ästhetische Bildkompositionen kann Reinhold Buddes Fotografien nicht abgesprochen werden. In dem Themenbereich, der ihn interessierte, hatte sich seit den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ein Spektrum an geläufigen Motiven herausgebildet. Die Darstellungsweise war von der gegenständlichen Malerei des 19. Jahrhunderts geprägt. Die Hofansichten folgten beispielsweise in ihrer Motivwahl, dem gewählten Bildausschnitt und Aufbau Landschaftsgemälden der Romantik und des Realismus. Zu den ersten Fotografen der Region, die sich eine vergleichbare Bildauffassung zu eigen machten und die eine künstlerische Bedeutung für sich in Anspruch nehmen, zählen Heinrich Baumann und Ernst Lohöfener, beide aus Bielefeld, die in Verbindung mit der Fachklasse Fotografie an der Handwerker- bzw. Kunstgewerbeschule am Sparrenberg tätig waren (seit 1912). Im Kreis Herford arbeitete Gottlieb Schäffer in Löhne. Zeitlich schlossen sich Meinhard Fenske und Hans Wagner, Wetzlar/Vlotho an, die beide der Generation Reinhold Buddes angehörten.

Fotografien dieser Art fanden auch Eingang in zwei aufwendige und weit verbreitete Veröffentlichungen unter der Herausgabe des Bielefelder Museumsleiters Eduard Schoneweg (1886-1969): „Bielefeld – Das Buch der Stadt“ (1926) und „Minden-Ravensberg – ein Heimatbuch“ (1929). Die Gründe für die Wahl der Bildvorlagen waren, wie der Blick in diese Veröffentlichungen zeigt, nicht immer harmlos: So werden aus der Physiognomie der Porträtierten fälschlich bestimmte Rassemerkmale abgeleitet. Derartige Verwendungsabsichten lassen sich – ohne dass sie dokumentiert sind – auch für einige Bilder von Budde nicht ausschließen (allerdings nach derzeitigem Wissensstand auch nicht bestätigen). „Potential“ für Interpretationen im Sinne der NS-Ideologie hatten ebenso Details von bäuerlich-ländlichen Torbögen. Vor dem Hintergrund der Veröffentlichung „Sinnbilder germanischen Glaubens“ des Bünder Lehrers, Archäologen und Museumsleiters Friedrich Langewiesche (1935) wurden Torbogendekore als „uralt“ und „germanisch“ interpretiert. Auffällig ist jedoch, dass sich in Buddes Sammlung ausgerechnet die von Langewiesche benannten Details nicht finden.

Beerdigung auf dem Hof Bartling in Herrinhausen (Enger), wohl 1941. Die Leiche wird mit einem vierspännigen Leiterwagen zum Friedhof gebracht, was damals bereits nur noch in Ausnahmefällen vorkam. Budde fotografierte mit diesem Bild exakt eine Situation nach, wie sie bei einer Beerdigung im Jahre 1927 auf dem gleichen Hof dokumentiert worden war (Sammlung Budde-Ehlers, LWL-Medienzentrum für Westfalen).
Torbogen des Haupthauses Riepe in Pödinghausen (Enger) von 1752: Der Hauseingang ist mit den Monogrammen des Erbauerehepaares zurückhaltend dekoriert (Sammlung Budde-Ehlers, LWL-Medienzentrum für Westfalen).

Insgesamt scheint Budde aber auch recht konsequent seinen eigenen inhaltlichen Interessen bzw. den Möglichkeiten gefolgt zu sein, die sich ihm boten. Künstlerische Aspekte verschränkten sich mit inhaltlichen. Viele von Budde ausgewählte Motive verraten thematische Kennerschaft. Es wurden Räume mit besonders alter und damit selten gewordener Einrichtung gesucht und gefunden. Bei Teilansichten von Räumen stehen besonders alte oder bemerkenswert gestaltete Details im Mittelpunkt, das waren meist Gegenstände und Häuser aus der Zeit deutlich vor 1800.

Eine Ausstellung in Bielefeld

Die Ausstellung „Traditionelles Leben dokumentieren. Die Sammlung Reinhold Budde“ im Bauernhausmuseum Bielefeld umfasst gut 60 Bilder und ist dort noch bis zum 11. November zu sehen. Es werden insbesondere diejenigen Fotografien gezeigt, die ländlich-bäuerliche Sachobjekte sowie Arbeitsvorgänge und Menschen zeigen.

Die Bildsammlung Budde-Ehlers befindet sich seit 2013 im LWL-Medienarchiv für Westfalen und ist auch online abzurufen: https://www.lwl.org/marsLWL/de/instance/ko/Slg-BuddeEhlers.xhtml?oid=234767735

 

Zum Weiterlesen:

Wolfgang Balz: Meinhard Fenske – ein Fotograf aus Herford. In: Historisches Jahrbuch für den Kreis Herford 23, 2016, S. 261-277.

Ulrich Hägele: Foto-Ethnographie. Die visuelle Methode in der volkskundlichen Kulturwissenschaft. Tübingen 2007. Online verfügbar unter: https://publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/handle/10900/121140