Anna Siemsen – eine sozialistische Erzieherin aus Hamm in Westfalen

25.07.2025 Niklas Regenbrecht

Anna Siemsen (undatiert). Fotokopie: AAJB, PP Siemsen, Anna 7.

Maria Daldrup

„Wollen wir […] den Menschen in der Fülle seiner mannigfachen Kräfte, in der Verwirklichung seines Schicksals, in Torheit und Irrtum, in Kampf und Sehnsucht, in Weisheit und Schönheit erleben, so müssen wir schon in die Ferne wandern zu den Toten, die doch lebendig sind, und die noch heute zu uns reden durch das Erbe, das sie in der Umwelt, die sie gebaut und gestaltet haben für uns zum Heil und Unheil. Nicht Flucht ist dieser Weg zu ihnen, sondern die Suche nach uns selber, nach unserer Aufgabe und unserm Weg,“ schrieb die 1882 im Dorf Mark (heute: Hamm) geborene, 1951 in Hamburg verstorbene Sozialistin und Pädagogin Anna Siemsen über den unschätzbaren Wert biographischer Zugänge für die Erforschung vergangener Gegenwarten.

Das Originalmanuskript von Anna Siemsen: Mein Leben in Deutschland. Quelle: Houghton Library, Box: 20, MS Ger 91, (212).

Das Manuskript „Mein Leben in Deutschland“ ist eine solch wertvolle historische Quelle. Mit wachem Blick analysiert Anna Siemsen auf insgesamt 86 maschinengeschriebenen Seiten die komplexen Verhältnisse zwischen Kaiserreich, Erstem Weltkrieg, Weimarer Republik und Nationalsozialismus und macht sie geradezu greifbar. Sie lässt Zeitgenoss:innen zu Wort kommen und schildert Erinnerungen an Orte und Begebenheiten. Ihr Blick gilt dabei stets jenen in der Gesellschaft, die nicht an den deutungsmächtigen Positionen saßen: den Arbeiter:innen. Siemsen beschreibt die Züge voller Weltkriegssoldaten, desertiert angesichts eines brutalen Krieges; rekapituliert Gespräche unter Matrosen, die sie belauschte, kurz nachdem diese in Kiel 1918 den Aufstand gewagt hatten; erinnert an die Ermordung Rosa Luxemburgs 1919 und die Zerschlagung des Spartakusbundes; skizziert ihr unablässiges Umherwandern, Beobachten und Hören während eines Aufenthalt in München just dann, als die Räterepublik ausgerufen wurde; informiert aus der Mitte des Geschehens während des Kapp-Putsches 1920 in Berlin; berichtet von der Ruhrbesetzung in Düsseldorf, die sie als Ortsansässige miterlebte. Stets kommt sie zurück in das Ruhrgebiet, ihre Heimat, das, so schrieb sie, „industrielle Herzgebiet Deutschlands“ mit der „zahlreichste[n], vielgestaltigste[n] und politisch seit alters lebendigste[n] Arbeiterschaft“.

Anna Siemsen gemeinsam mit ihrer Schwester Paula (1880-1965) und ihrem jüngeren Bruder August (1884-1958). Fotokopie: AAJB, PP, Siemsen, Anna 12.

Als Tochter des evangelischen Pfarrers August und seiner Frau Anna Sophie Siemsen erhielt Anna Siemsen eine gute Ausbildung: Sie besuchte die Dorfschule in Mark, im Anschluss die höhere Mädchenschule in Hamm, legte dann 1901 ihr Examen als Lehrerin ab. 1905 machte sie ihr Abitur als Externe am humanistischen Gymnasium in Hameln, studierte anschließend Germanistik, Philosophie und Latein in München, Münster und Bonn und wurde 1909 zur Dr. phil. in Bonn promoviert. Hiernach folgte das Examen für das Lehramt an höheren Schulen sowie zwei weitere Studiensemester in Göttingen, um die Erweiterungsprüfung für das Lehramt zu erlangen. Schon vor und während des Studiums arbeitete sie als Privatlehrerin, dann als Oberlehrerin im Oberlyzeum in Düsseldorf bis sie schließlich mehr und mehr in politischen und wissenschaftlichen Funktionen des Kultusbereichs tätig war. Ihre Leidenschaft für Bildung lag gerade in der Kritik am herrschenden autoritären Bildungssystem begründet, das den jungen Menschen preußischen Untertanengeist und einen kriegerischen Nationalismus beibrachte. Für die Pazifistin und Sozialistin Siemsen ein Unding. Und von diesem Geist ist auch ihr Manuskript „Mein Leben in Deutschland“ durchdrungen, in dem sowohl der Blick auf das große Ganze fasziniert – auf die gesellschaftspolitischen Umstände, den tiefgreifenden sozialstrukturellen Wandel, die sich verschärfende Ungleichheiten –, als auch auf das Kleine, das dörfliche Leben, die Schlote der Ruhrgebietsindustrie, die alltägliche Bildungsarbeit mit jungen Menschen. 1933 war Siemsen schließlich gezwungen, das Land zu verlassen und fand ihre Exilheimat in der Schweiz. Dort, aus der Ferne, verfasste sie 1939/1940 „Mein Leben in Deutschland“.

Die Initialzündung für diesen autobiographischen Text gab ein Aufsatzwettbewerb zum Thema „My Life in Germany before and after Jan. 30, 1933“ der Widener Library der Harvard University in Cambridge/Massachusetts 1939. Das Ziel: empirische Quellen für eine Studie über die Effekte des Nationalsozialismus auf die deutsche Gesellschaft zu sammeln. Den Wettbewerbsregeln zufolge konnte der Essay mit mindestens 20.000 Worten bzw. 80 Tippseiten in deutscher oder englischer Sprache abgefasst werden und sollte „möglichst einfach, unmittelbar, vollständig und anschaulich gehalten sein. Bitte BESCHREIBEN Sie wirkliche Vorkommnisse, die WORTE und TATEN DER MENSCHEN, soweit erinnerlich.“ Über 250 Erinnerungen an ein Land, in dem aufgrund von Herkunft und/oder politischer Einstellung kein Leben mehr möglich war, erreichten das Wettbewerbskomittee rings um die drei Harvard-Professoren Edward Y. Hartshorne, Gordon W. Allport und Sydney B. Fay. Ein wichtiger Grund für diese Vielzahl waren auch die Geldprämien zwischen 500 Dollar für den 1. Preis, womit sich Exilant:innen in den meisten Teilen der Welt hätten über Monate über Wasser halten können, bis hin zu 20 Dollar für den 5. Preis, der ebenfalls damals deutlich mehr als ein Taschengeld war.

Anna Siemsen, die durch eine Scheinehe mit Walter Vollenweider schweizerische Staatsbürgerin war und sich so im Unterschied zu vielen Leidensgenoss:innen weiterhin politisch betätigen konnte, lockte vermutlich weniger die Geldprämie, sondern ihre Überzeugung, wie sie im Vorwort des Manuskripts schrieb, „jedes Zeugnis ueber die deutsche Vergangenheit, die zum Dritten Reiche Adolfs Hitlers fuehrte“ zu dokumentieren, „um zu verstehen, dass dieser Ausgang kein Zufall, kein Unfall war, sondern nichts anderes als letzte Entwicklung von Tendenzen, die von Anbeginn in Hohenzollern-Preussen vorhanden waren und zur europäischen und Weltgefahr wurden durch ihre Verbindung mit den imperialistischen Tendenzen der spät und rasch sich entfaltenden vorwiegend westdeutschen Industrie“.

Anna Siemsen: Mein Leben in Deutschland, Vorwort, S. 1.

Das Original von „Mein Leben in Deutschland“ findet sich heute unter der Signatur „Box: 20, MS Ger 91, (213)“ in der Houghton Library als Teil der 263 Manuskripte umfassenden Sammlung „My life in Germany Contest Papers“, verwahrt in 25 Archivboxen. Wahrgenommen wurde die Sammlung bislang vor allem als ein Zufallsfund, was sicherlich einerseits mit der Unkenntnis über den Entstehungszusammenhang dieses Manuskripts zusammenhängen könnte, aber auch damit, dass es keinen geschlossenen Nachlass von Siemsen gibt. Im Zuge einer Forschungsarbeit entstand im Archiv der Arbeiterjugendbewegung 1992 ein Personenbestand aus Kopien von und über Anna Siemsen, der 0,65 laufende Meter umfasst. Siemsens „Mein Leben in Deutschland“ wird darin verwahrt unter der Signatur „PB Siemsen, Anna 20“. Dieses Manuskript ist seit 2025 als edierte Quelle in Band 24 der Schriftenreihe des Archivs der Arbeiterjugendbewegung auch einem breiteren Publikum zugänglich. Das Ausgraben solcher historischen Schätze und ihre Wiedersichtbarmachung ist eben auch eine wichtige Aufgabe von Archiven, um die Geschichte der Arbeiter:innen(jugend)bewegung nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

Abdruck des Originalmanuskripts in: Hannelore Faulstich-Wieland/Sinah Mielich/Florian Muhl (Hg.): Anna Siemsen. Mein Leben in Deutschland (und weitere Texte), Schriftenreihe des Archivs der Arbeiterjugendbewegung, Bd. 24, Berlin 2025.

Literatur

Thomas Karlauf: „So endete mein Leben in Deutschland“. Der 9. November 1938, in: Uta Gerhardt./Ders. (Hg.): Nie mehr zurück in dieses Land. Augenzeugen berichten über die Novemberpogrome 1938, Berlin 2009, S. 11–33.

Harry Liebersohn/Dorothee Schneider: „My Life in Germany before and after January 30, 1933“: A Guide to a Manuscript collection at Houghton Library, Harvard University, Philadelphia 2001.

Hannelore Faulstich-Wieland/Sinah Mielich/Florian Muhl (Hg.): Anna Siemsen. Mein Leben in Deutschland (und weitere Texte), Schriftenreihe des Archivs der Arbeiterjugendbewegung, Bd. 24, Berlin 2025.