Aufruhr oder Streik? Die Auseinandersetzungen am Schildescher Viadukt 1845

30.09.2025 Niklas Regenbrecht

Gleisarbeiter, rund einhundert Jahre später, Archiv für Alltagskultur in Westfalen, 2014.00383.

Michael Rosenkötter

1825 hatte Friedrich Harkort (1793 – 1880) die Eisenbahnanbindung der östlich des Rheins gelegenen industriellen Zentren an der Wupper und der Ruhr an die Nordseehäfen in Bremen und Hamburg vorgeschlagen. Es vergingen fast zwei Jahrzehnte, bis über die Streckenführung, die Finanzierung und den Bau der Eisenbahnlinie entschieden war. Am 18. Dezember 1843 erhielt die Cöln-Mindener Eisenbahn-Gesellschaft die behördliche Konzession für den Bau der Strecke von Deutz über Düsseldorf, Dortmund, Hamm, Bielefeld und Herford nach Minden. Keine vier Jahre später wurde am 15. Oktober 1847, dem Geburtstag des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. (1795 – 1861), in Minden das letzte Teilstück der Eisenbahnstrecke in Betrieb genommen.

Die 263 Kilometer lange Eisenbahnstrecke war von Anfang an zweigleisig geplant, wurde aber – mit Ausnahme von Fluss- und Talquerungen und den Haltestationen – in vielen Teilstücken zunächst nur eingleisig ausgebaut. Tausende Arbeiter wurden eingestellt, um die Fertigstellung der Verkehrstrasse schnellstmöglich voranzutreiben. Es waren billige Arbeitskräfte: zu viele Menschen waren durch den Wandel von der Handarbeit zur industriellen Produktion arbeitslos geworden. Zudem gab es mehrere Jahre hintereinander Missernten. Die Not und die Konkurrenz der Arbeitswilligen waren groß, die Löhne äußerst niedrig.

Wer Arbeit beim Bau der Eisenbahn aufnehmen wollte, brauchte eine Legitimationskarte, die von den örtlichen Ämtern auszustellen war. Darin wurden die familiären und Wohnverhältnisse – Wohnort, verheiratet, Anzahl der Kinder – erfasst. Die Karte enthielt darüber hinaus eine genaue Personenbeschreibung: Alter, Geburtsjahr und Körpergröße in Fuß und Zoll. Weitere körperliche Merkmale wie Haarfarbe, Beschreibung des Gesichts (Stirn, Augenbrauen, Augen, Nase, Mund, Bart, Kinn, Gesichtsfarbe) und der Physiognomie (Statur und besondere Kennzeichen) wurden dokumentiert und gegebenenfalls wurde dem Antragsteller bescheinigt, dass „in polizeilicher Beziehung nichts zu erinnern“ sei. Der Arbeitswillige musste die Legitimationskarte eigenhändig unterschreiben und am Arbeitsort der örtlichen Polizeistelle übergeben, die daraufhin einen Arbeitsschein ausstellte, den der Arbeiter stets bei sich zu tragen hatte.

Eisenbahnbau, hier bei Winterberg 1905/06, Archiv für Alltagskultur in Westfalen, 1989.00049.

Anfang bis Mitte des 19. Jahrhunderts war es üblich, die Arbeiten auf Großbaustellen im Berg-, Straßen- und Wegebau an Kolonnen zu vergeben. Sie wurden Schachten genannt und bestanden aus 40 bis 200 Arbeitern. Die einzelnen Schachten wurden von selbständigen Subunternehmern, den Schachtmeistern, geführt. Beamte der Cöln-Mindener Eisenbahn-Gesellschaft, die dem örtlichen Landrat unterstellt waren, beaufsichtigten die Schachtmeister.

Die Schachtmeister erhielten als Vorarbeiter von jedem Arbeiter ihrer Schacht sechs Pfennig die Woche. Sie kontrollierten die Anwesenheit und Arbeitsleistung und waren für die Entlohnung der Arbeiter zuständig. Die Arbeiter mussten ihre eigenen Schaufeln und Hacken mitbringen und sich, sofern sie nicht zu Hause wohnen konnten, eine Unterkunft – in Scheunen, auf Dachböden, in winzigen Kammern oder Hütten – besorgen. Zwölf Silbergroschen Tageslohn erhielten sie, wovon 7½ Silbergroschen für Kost und Logis und Schmiergeld für die Schubkarre und zusätzlich ½ Silbergroschen für den Ausschank von Branntwein abgezogen wurden, egal ob dieser getrunken wurde oder nicht. Es verblieben also täglich vier Silbergroschen für Frau und Kinder daheim und für Kleidung, Schuhwerk und sonstige Bedürfnisse.

In den Sommermonaten betrug die Arbeitszeit 14 bis 15 Stunden für 15 bis 17 Silbergroschen. Wegen der längeren Arbeitszeiten erhielten die Arbeiter zusätzliche Zahlungen. Am Zahltag, dem 10. Juli 1845, blieben diese Nachzahlungen aber aus. Und schon bald erschallte der Ruf: Nicht mehr Arbeiten! Wir wollen höheren Lohn! Die herbeigerufene Polizei konnte den Ausstand nicht beenden. Am folgenden Tag goss der Schildescher Amtmann Öl ins Feuer: Er bot der Eisenbahngesellschaft an, 900 Arbeiter zu stellen – für den halben Lohn. Daraufhin zogen die Streikenden zu seinem Amtshaus und demolierten die Inneneinrichtung. Das herbeigerufene Militär nahm schließlich zahlreiche Streikende fest. Ein Jahr danach, am 8. Juli 1846, wurden 23 Arbeiter zu Gefängnis- und Zuchthausstrafen von bis zu fünf Jahren verurteilt.

Bielefeld mit Feldmark, nach 1847, aus: Gertrud Angermann: Land-Stadt-Beziehungen. Bielefeld und sein Umland 1760 – 1860. Unter besonderer Berücksichtigung von Markenteilungen und Hausbau, Münster 1982, ohne Seite. Originalabbildung im Stadtarchiv Bielefeld.

Die Streiks blieben aber nicht folgenlos: Im gleichen Jahr wurde eine Arbeiterkrankenkasse für die Eisenbahnarbeiter eingerichtet. – Bis auch anderweitig Beschäftigte von einer solchen Absicherung profitierten, sollte es noch fast vier Jahrzehnte dauern.  1846, ein Jahr nach den Streiks, trat das Unfallversicherungsgesetz in Kraft und 1889 das Gesetz über die Alters- und Invalidenversicherung.

Die Arbeitsniederlegung der Bauarbeiter bei Schildesche war beispielgebend für viele darauffolgende Arbeiterkämpfe, die auf der Hoffnung der abhängig Beschäftigten auf Gerechtigkeit und sozialpolitische Verantwortlichkeit basierten.

 

Literatur:

Rudolf Rempel: Hunger und menschliches Elend gehen über die Politik. Korrespondenzen. In: Das Westfälische Dampfboot. Eine Monatsschrift. 1. Jahrgang 1845, Juli, S. 338-40 (online zugänglich unter: https://sammlungen.ulb.uni-muenster.de/hd/periodical/pageview/3850304.

Josef Mooser: Ländliche Klassengesellschaft 1770-1848, Bauern und Unterschichten, Landwirtschaft und Gewerbe im östlichen Westfalen. Göttingen 1984.