„Baedekers Konstantinopel und Kleinasien“ (1905) – Ein Handbuch für Orientreisende

27.01.2023 Niklas Regenbrecht

Christiane Cantauw

Infolge eines Erbfalls erhielt die Kommission Alltagskulturforschung 75 Baedecker-Reiseführer aus der Zeit von 1881 bis 1983. Einer davon ist das Handbuch für Reisende „Konstantinopel und das Westliche Kleinasien“ mit neun Karten, 39 Plänen und fünf Grundrissen.

Die Aufmachung der Baedeker-Reisehandbücher blieb über 150 Jahre stets gleich: ein roter Einband mit goldener Prägeschrift. Die Kommission Alltagskulturforschung hat durch einen Erbfall 70 dieser Reiseführer aus der Zeit zwischen 1881 und 1983 erhalten. (Foto: Cantauw)

1905, als das Reisehandbuch für Konstantinopel und Kleinasien in Leipzig erschien, bestand der Baedeker-Verlag bereits seit 73 Jahren. Der 1801 geborene Karl Baedeker, der am 11. Juli 1827 in Koblenz eine Verlagsbuchhandlung eröffnet hatte, kaufte 1832 den dort ansässigen Verlag von Franz Friedrich Röhling (1796–1846) auf. Schon damals gehörte zu dessen Verlagsprogramm auch ein Reisebuch von Professor Johann August Klein (1778–1831): Rheinreise von Mainz bis Köln, Handbuch für Schnellreisende, 1828. Angeregt durch dessen erfolgreichen Verkauf baute Karl Baedeker die Reisesparte im Laufe des 19. Jahrhunderts weiter aus. Zugute kam ihm dabei die zunehmende Reiselust, die sich nicht mehr nur auf Adelige beschränkte, sondern auch weite Teile des wohlhabenden Bürgertums erfasst hatte.  

Ebenso wie die übrigen Reiseführer aus dem Baedeker-Verlag – 1905 lagen weitere 39 Reisehandbücher vor – präsentiert sich das 11 x 15,5 cm große, 275 Seiten starke Buch „Konstantinopel und das Westliche Kleinasien“ in rotem Kunstleder mit Goldprägedruck auf der Vorderseite und auf dem Buchrücken. Es war eines von sechs Handbüchern aus dem Baedeker-Reiseführer-Programm, die sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg Reisezielen außerhalb Europas widmeten. Wie international der seit 1872 in Leipzig ansässige Verlag seinerzeit aufgestellt war, belegt auch das Verlagsangebot von Führern in französischer und englischer Sprache für Frankreich und Nordamerika/Kanada.

Nach dem Tod Karl Baedekers im Jahre 1859 und seines Nachfolgers Ernst Baedeker (1833–1861) übernahm der ehemalige Prokurist und spätere Teilhaber des Verlags, Heinrich Ritter (1837–1917), die Verlagsgeschäfte. Er betreute bis zum Ersten Weltkrieg die Herausgabe der Reisehandbücher und also auch den vorliegenden Konstantinopel-Führer.

Das Handbuch für Reisende „Konstantinopel und das westliche Kleinasien“ von 1905 war ein praktischer Ratgeber für Orient-Reisende um die Jahrhundertwende. (Foto: Cantauw)

Als Autoren des Konstantinopel-Reiseführers werden Dr. Dietrich Bender aus Leipzig und Dr. Carl Friedrich aus Posen genannt. Über beide Autoren ist nur wenig bekannt. Dietrich Bender war wohl ein Griechenland-Kenner, der das Land ein Jahr lang bereist hatte und die vierte überarbeitete Auflage des Griechenland-Reiseführers von Baedeker verantwortete. Carl Friedrich hat laut Vorwort mehrere wissenschaftliche Reisen nach Kleinasien unternommen und sich dort über ein Jahr lang aufgehalten.

Die Reise in die alte byzantinische Stadt Konstantinopel (gegründet um 660 v. Chr. als Byzanz, heute Istanbul; der Name Konstantinopel war seit dem 4. nachchristlichen Jahrhundert bis 1930 gebräuchlich) und nach Kleinasien ist eine Reise in den Orient. Die Begeisterung für diesen Teil der Welt hatte in Europa bereits im 18. Jahrhundert eingesetzt. Literaten wie Johann Wolfgang von Goethe, Maler wie Eugène Delacroix oder Gustave Guillaumet sowie Komponisten wie Wolfgang Amadeus Mozart schwärmten von der Kunst und Kultur des „Morgenlandes“ – teils ohne jemals dort gewesen zu sein. Adelige und Bürger in ganz Europa lasen die Reiseberichte von Orientreisenden wie Gerhard Rohlfs (Mein erster Aufenthalt in Marokko, 1873) oder Ida von Hahn (Orientalische Briefe, 1844) und Eugenie Schäfer (Aus dem Orient. Reisebriefe an Freundinnen in der Heimat, 1877). Museen selbst in der westfälischen Provinz wie das 1890 gegründete Museum in Hamm (heute Gustav-Lübcke-Museum) präsentierten Sammlerstücke aus Kleinasien und Ägypten und manch ein Haus oder eine großbürgerliche Wohnung wurde im orientalischen Stil eingerichtet.

Das Reisehandbuch „Konstantinopel und Kleinasien“ bediente also durchaus ein bereits vorhandenes Interesse an dieser Weltgegend. Dennoch fällt auf, dass die gängigen Orient-Stereotype und Klischees in dem Buch nicht bedient werden. In sachlich-wissenschaftlichem Ton werden Geschichte, Kultur und Sehenswürdigkeiten vorgestellt. So heißt es beispielsweise über den Großen Bazar in Konstantinopel: „Der Große Bazar (Pl. G 6), immer noch eine der Hauptsehenswürdigkeiten Konstantinopels, nimmt ein abgegrenztes, nur durch bestimmte Tore zugängliches Stadtviertel zwischen der Bajesid-Moschee (S.97) und der Nuri Osmanié-Moschee (S.104) ein. Eine Stunde vor Sonnenuntergang wird der ganze Bezirk verlassen und abgeschlossen; Freitags feiern die mohammedanischen, Samstags die jüdischen, Sonntags die Christlichen Kaufleute.“ (S.99f.)

Bezugsgröße ist in vielen Erläuterungen nicht ein diffuses Orient-Bild, sondern Griechenland; die Reise nach Konstantinopel und Kleinasien sei – so die Autoren – eine wichtige Grundlage zur „Erkenntnis des Griechentums“ (S. V) und könne auch anderweitig überzeugen: „Die Landschaft ist viel großartiger als in Griechenland.“ (S. V)

Das Reisehandbuch bot den Reisenden neun Überblickskarten, 20 Pläne und fünf Grundrisse, um die räumliche Orientierung in der Region, in den Städten und in den wichtigsten Sehenswürdigkeiten wie beispielsweise Pergamon oder Troja zu erleichtern. (Foto: Cantauw)

Reiseführer sind stets eine spannende Quelle, wenn es um das Wie historischen Reisens geht. Auch aus dem vorliegenden Handbuch erfährt man diesbezüglich einiges. Zielgruppe des Handbuchs waren offenbar allein reisende Männer. Ihnen wird als geeignete Ausrüstung zu einem „leichteren Anzug“, einem Mantel, einem schwarzen Rock (Herren-Oberbekleidung) und starkem Schuhwerk geraten: „Für weitere Ritte und Nachtquartiere in Bauernhäusern braucht man Reisedecke, Eßbesteck und Trinkbecher, eventuell Gamaschen und eine Büchse Insektenpulver, sowie eine starke und gut verschließbare Reisetasche, die am Sattel angebunden werden kann. Die Mitnahme von Waffen macht nur Schwierigkeiten.“ (S. XIV) Sprachlich könne man sich im Reisegebiet gut mit französisch und neugriechisch behelfen, türkisch sei nicht unbedingt erforderlich. An den Küsten werde auch italienisch gesprochen und die Dragoman (= Führer und Dolmetscher) sprächen französisch, englisch oder deutsch (S. XII).

Die Autoren gingen offenbar davon aus, dass die Reisedauer stark variierte. Für Konstantinopel empfehlen sie eine Aufenthaltsdauer von mindestens vier bis fünf Tagen. Abstecher und Weiterreisen ins Umland (u. a. Bosporus, Brussa, Nicäa) oder ins westliche Kleinasien (Troja, Smyrna, Pergamon u. a.) und die dortigen (vor allem antiken) Sehenswürdigkeiten werden eingehend dargestellt. Auch den auf dem Anreiseweg liegenden Balkanstädten (Budapest, Sofia, Belgrad, Athen) sind eigene Kapitel gewidmet. Ihre Sehenswürdigkeiten sind ebenso wie diejenigen des Reiselandes mit dem von Baedecker eingeführten Sternchen-System kategorisiert, das besonders Sehenswertes mit ein oder zwei Sternen im Text hervorhob. Dies alles sind Hinweise darauf, dass von einer mehrtägigen Anreise ausgegangen wurde – allein die Dampferfahrt von Triest nach Konstantinopel dauerte 1905 sechs Tage –, wenngleich auch die Möglichkeit einer schnellen Anreise mit dem „Orient-Express und andere[n] Schnellzüge[n] mit Schlafwagen“ (S. IX) Erwähnung findet. Doch auch die schnellen Reiseverbindungen wurden unterbrochen und erforderten die entsprechenden Übernachtungstipps: „Die Hauptstädte der Balkanstaaten, in denen man vielleicht Halt macht, ebenso die Übergangspunkte von der Eisenbahn zum Dampfer sind mit europäisch geführten Gasthöfen versehen“ (S. IX).

Hier wie in der auf Seite XIII geäußerten Einschätzung, der „Nutzen einer Rückfahrkarte“ werde aufgehoben „durch den Zwang zweimal die gleiche Strecke zu fahren“, deutet sich ein Reiseverhalten an, bei dem der Weg zum Ziel der Reise ein wesentlicher Bestandteil der Reise war und keinesfalls nur ein möglichst schnell zu überwindender Zwischenraum.

Auch der Organisationsgrad der Reisenden war offenbar ein anderer als heute. Waren sie nicht Teil einer Reisegruppe, so hatten sie sich um Unterkunft, Verpflegung, Ernährung, Ausflüge, Transportmittel, Passangelegenheiten, Reisebudget in der richtigen Währung und vieles mehr selbst zu kümmern. Bei Fernreisen konnte vieles nicht im Vorfeld erledigt werden. Deshalb waren Informationen über Fahrpläne, zu Führungen vor Ort und wie man die entsprechenden Führer am besten anheuerte, über Konsulate und Unterkünfte, Reiseverkehrsmittel, die notwendigen Unterlagen und wo man sie erhielt sowie Informationen über sprachliche Voraussetzungen ebenso wichtig wie die Erläuterung des Sehenswerten oder ein Abriss über die Landesgeschichte. All das lieferte das Reisehandbuch, das für Individualreisende somit nahezu unverzichtbar war.  

Damit die Reise nach Konstantinopel und ins westliche Kleinasien nicht an Kleinigkeiten wie Trinkgeldern scheiterte, findet auch dieses Thema beispielsweise in Zusammenhang mit der Kontrolle des Gepäcks Erwähnung: „Ein Trinkgeld (Bakschisch) von 3 bis 5 Piastern ist dabei [beim Übergang in andere Provinzen] üblich und erleichtert die Verhandlungen; es muß aber unauffällig, keinesfalls in Gegenwart höherer Beamten gegeben werden.“ (S. XV)

Der Ratschlag, das Handbuch beim Grenzübertritt besser in der Tasche zu verstecken, war auf einen Einlegezettel gedruckt und erscheint deshalb umso eindringlicher. (Foto. Cantauw)

Und noch etwas erschien der Redaktion so erwähnenswert, dass mit Hilfe eines Einlegezettels eigens darauf hingewiesen wurde: „Der Übereifer der türkischen Zensur erstreckt sich bisweilen auf Reisehandbücher. Man vermeidet Schwierigkeiten, wenn man das Buch vor Überschreiten der türkischen Grenze oder vor der Ankunft in einem türkischen Hafen in die Rocktasche steckt.“

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