Etliche der rund 5.000 Besucher:innen hatten lange Anfahrtswege auf sich genommen, um die Stones live zu erleben. Der Eintrittspreis – sechs bis zehn DM – betrug das Mehrfache einer damaligen Kinokarte. Zum Vergleich: In durchschnittlichen Haushalten mit vier Personen standen damals monatlich etwa vier bis acht DM für Theater, Kino und sonstige Veranstaltungen zur Verfügung. Der Besuch eines Pop-Konzertes der Stones oder beispielsweise auch der Beatles, die 1966 auf Deutschlandtournee gingen, war also für ein durchschnittliches jugendliches Budget eine eher größere Ausgabe. Meistens hörten Jugendliche ihre Lieblingsmusik im Radio. Und sie informierten sich in der ‚Bravo‘ über aktuelle Trends. Schallplatten standen auf ihren Wunschzetteln. Und viele gingen gerne zu Tanzveranstaltungen, bei denen lokale Amateurgruppen spielten und die Preise erschwinglich waren.
Über das Stones-Konzert des Jahres 1965 berichtete die regionale und überregionale Presse ausführlich, der Ton war irritiert bis ablehnend. Es war von Jugendlichen in „Ekstase“, besonders weiblichen, die Rede. Das ‚Westfälische Volksblatt‘ kommentierte, „glücklich weinend“ habe eine junge Frau den Stones „gelauscht“, doch „außer Geschrei und Gekreische“ werde sie „kaum etwas verstanden haben.“ (Westfälisches Volksblatt vom 13. September 1965) „Heiße Nächte mit den Stones“, bilanzierte die ‚Bravo‘, die die Tournee gesponsert hatte, Ende September und brachte auch ein Foto dieses weiblichen Fans in der Halle Münsterland.
Ordnungskräfte und manche skeptische Bürger:innen hatten mit Krawall gerechnet, Befürchtungen, zu denen Rock’n-Roll-Konzerte und jugendliche Reaktionen auf den Film „Außer Rand und Band“ (1956, Regie: Fred F. Sears) Anlass gegeben hatten. Im Zuge der „Beatwelle“, unter der unterschiedliche Musikstile verstanden wurden, schürte das Klischee des „Halbstarken“, der Ruhe und Ordnung störte, auch das Misstrauen gegenüber jugendlichen Rock’n Roll-, Rock- und Beat-Fans im Allgemeinen. Beim westfälischen Tourneeauftakt der Stones gab es für die Polizei wenig zu tun, in der Berliner Waldbühne, wo die Gruppe am 15. September vor einem zahlenmäßig weitaus größeren Publikum auftrat, kam es dagegen zu massiven Ausschreitungen. Die Beat-Begeisterung fand also sehr unterschiedliche Ausdrucksformen, die Live-Konzerte waren eine körperlich-sinnliche Erfahrung. Die Auftritte der Bands, auch vieler Amateur-Gruppen waren – wie zu zeigen sein wird – vielerorts Bestandteil von Tanzveranstaltungen.
Recklinghausen: Vom Tanztee zum Beatfestival
Unspektakulär, ohne Krawall und Randale, und vielleicht gerade deshalb so spannend entwickelte sich Recklinghausen in den 1960er Jahren zu einem Zentrum des Beat. Wenn Recklinghausen damals als deutsches Liverpool bezeichnet wurde, dann deshalb, weil sich auch in den Städten des westfälischen Industriereviers ein wirtschaftlicher Umbruch anbahnte, der mit tiefgreifenden gesellschaftlichen Folgen einherging. Das englische Liverpool wurde bekanntlich zugleich mit den Beatles assoziiert. Drohende Arbeitslosigkeit und mangelnde Zukunftsperspektiven für junge Menschen galten als ein Hauptgrund für die Entstehung des Beat.
Zunächst fanden ab 1957 in der neu errichteten Stadthalle, der Vestlandhalle, an den Wochenenden nachmittags „Tanztees“ für Jugendliche statt, die sich zunehmender Beliebtheit erfreuten. Die Formate änderten sich, es war bald auch von „Jugendbällen“ die Rede, dann ab Mitte der 1960er Jahre von „Beatfestivals“. Der Eintritt zu den Veranstaltungen kostete zwei DM, ein Getränk 50 Pfennig. Alkohol wurde nicht ausgeschenkt, das Rauchen war nicht erlaubt. Eine Besucherin erinnerte sich folgendermaßen: „Die Zeit vor Einlass bis die Band spielte hatte für mich etwas total Aufregendes. Meine Gedanken sausten oft durcheinander: Wie sehe ich aus? Mal gucken, wie sehen die anderen Mädchen aus. […] Dann kam die Band. […] Auf einer Veranstaltung gehörte ich zu den glücklichen Gewinnern einer Langspielplatte mit den Autogrammen der Gruppe. Es waren entweder die German Blue Flames oder The Rattles.“ (Zit. in: Beat. Geschichte(n) im Revier, S. 22.) Gewinner der Wettbewerbe, von denen die Zeitzeugin spricht, deren Sieger:innen von einer Jury und dem Publikum bestimmt wurden, waren 1964 und 1965 die German Blue Flames. 1966 war es die Amateur-Gruppe Percy & the Goalbirds aus Enger im Kreis Herford. „The Navajos“, eine Gruppe aus Castrop-Rauxel, erreichte am 13. Februar 1966 den 6. von 31 Plätzen in der Jurybewertung. Ihr Vorbild waren zweifelsohne die Beatles, warben sie doch für sich ausdrücklich mit einem „Liverpool-Sound“!