„Belfast liegt im Münsterland“ – Anschläge der IRA in Nordrhein-Westfalen 1978–1996

11.08.2023 Marcel Brüntrup

Marcel Brüntrup

Münster, Samstagabend kurz vor neun Uhr: Ein blauer Ford Cortina, durch ein britisches Kennzeichen, Blaulicht auf dem Dach und den Schriftzug „Military Police“ als Streifenwagen der britischen Militärpolizei zu identifizieren, hält an der Kreuzung Bröderichweg/Kanalstraße an einer roten Ampel. Die Insassen, zwei junge Unteroffiziere, befinden sich auf dem Weg zu ihrem Stützpunkt in Coerde. Plötzlich treten zwei mit einem Schnellfeuergewehr und einer Maschinenpistole bewaffnete Personen hinter einer Telefonzelle hervor und eröffnen das Feuer auf den stehenden Wagen. Acht von mindesten einundzwanzig abgefeuerten Kugeln durchschlagen den linken Kotflügel und die Türen des Ford, zertrümmern die hintere linke Seitenscheibe. Zwei Geschosse durchdringen den Sitz des 22jährigen Fahrers Steward Liech und verwunden ihn schwer. Sein Beifahrer und Streifenführer, der 25 Jahre alte John Helly, bleibt unverletzt. Mit letzter Kraft kann Liech einen Funkspruch absetzen, kurz darauf treffen britische und deutsche Polizeiwagen ein, die Täter sind jedoch längst geflohen. Trotz eines lebensgefährlichen Steckschusses im Bauchraum überlebt Liech das Attentat.

Neun Jahre nach dem ersten Anschlag in Münster schoss ein IRA-Kommando am 3. September 1989 erneut zwei britische Soldaten nieder, diesmal nahe der York-Kaserne in Gremmendorf. Das Foto zeigt Beamte des BKA bei der Rekonstruktion des Tathergangs. (Foto: Jürgen Peperhowe, Westfälische Nachrichten, 4.9.1989)

Die Tat, die am 1. März 1980 nicht nur Münster, sondern die gesamte Bundesrepublik erschütterte, war Teil einer Anschlagserie der Provisional Irish Republican Army (IRA), die seit den späten 1970er Jahren britische Armeeangehörige und Militäranlagen in Nordrhein-Westfalen ins Visier nahm. Auftakt war eine Reihe koordinierter Bombenanschläge im Jahr 1978, bei denen innerhalb weniger Stunden Sprengsätze an den Außenmauern und –zäunen britischer Kasernen und Depots in Mönchengladbach, Krefeld, Düsseldorf, Ratingen, Duisburg, Mühlheim, Bielefeld und Minden gezündet wurden. Menschen wurden dabei glücklicherweise nicht verletzt. Im Jahr 1980 führte die IRA drei weitere Anschläge durch, diesmal wesentlich direkter und brutaler. Genau zwei Wochen vor dem beschriebenen Attentat auf die beiden Militärpolizisten in Münster war in Bielefeld der 43jährige britische Stabsoffizier und Vater von vier Kindern Marc Coe vor seinem Haus niedergeschossen worden, als er gerade in seine Einfahrt fuhr. Er erlag im Krankenhaus seinen Verletzungen. Am 10. März wurde schließlich der 24 Jahre alte Unteroffizier Steven Sims in Osnabrück bei einem Lauf durchs Heger Holz von fünf Kugeln aus einem Revolver getroffen. Der an Hüfte und Arm verletzte Soldat konnte noch einen Kilometer weiterlaufen und überlebte den Mordversuch. In keinem der Fälle konnten die Verantwortlichen ermittelt werden. Die IRA bekannte sich öffentlich zu den Anschlägen, wobei sie auf das Verständnis der deutschen Bevölkerung und ihre Ablehnung der britischen Präsenz auf deutschem Boden baute:

„Wir nehmen an, dass das deutsche Volk mit dem demokratischen Recht des irischen Volkes auf Selbstbestimmung, das ihnen von der britischen Regierung verwehrt wird, sympathisiert. [...] Wir versichern den Deutschen, daß keiner der Angriffe auf sie abzielt – sondern allein auf das britische Militär und die Administratoren, die unser Volk unterdrücken.“ (Münstersche Zeitung, 12.3.1980)

Wenig später erschien im Spiegel ein Interview mit „Patrick“, einem Mitglied aus der Führungsriege der IRA. Danach gefragt, warum die Organisation nun auch in der Bundesrepublik aktiv geworden sei, führte er aus:

„Fast alle Soldaten, die in Nordirland eingesetzt werden und dort unser Volk unterdrücken, sind bei der britischen Rhein-Armee in Deutschland stationiert. Nach einem Rotations-System werden sie für eine gewisse Zeit in Ulster stationiert und kehren dann nach Deutschland zurück. Vor allem aber: Sie werden dort gezielt für ihre dreckige Arbeit in den Straßen unserer Städte und Dörfer ausgebildet.“ (Der Spiegel, Nr. 15/1980)

Gemeint war damit der Truppenübungsplatz Senne nördlich von Paderborn, auf dem die britische Armee zu Trainingszwecken eine Kulissenstadt nach dem Vorbild West-Belfasts errichtet hatte. „Tin City“, benannt nach ihren maßstabsgetreu aus Wellblech nachgebauten Reihenhäusern, diente fortan zur Vorbereitung auf Einsätze britischer Soldaten in Ulster. Mitten in Westfalen übten Angehörige der Rheinarmee die Kontrolle verdächtiger Personen, bereiteten sich auf Ausschreitungen und Bombenanschläge vor und trainierten den Häuserkampf in nach ihren nordirischen Vorbildern benannten Straßenzügen.

„Belfast liegt im Münsterland“ titelte sieben Jahre später Die Zeit, ohne die genaue Lage von „Tin City“ zu kennen, als eine weitere Anschlagserie die Menschen in Nordrhein-Westfalen in Angst versetzte (Die Zeit, Nr. 39/1989). Diese zweite Serie begann im März 1987 mit der Explosion einer 100 Kilogramm schweren Autobombe am Hauptquartier der Rheinarmee in Mönchengladbach, bei der 31 Menschen verletzt wurden. Bis 1990 verübte die IRA zahlreiche weitere Anschläge auf Einrichtungen und Mitglieder der britischen Armee im Rheinland und in Westfalen, aber auch in Hannover und im niederländischen Roermond. Sieben Menschen kamen dabei ums Leben, Dutzende weitere wurden verletzt. Trotz wiederholter Beteuerungen der IRA, die Angriffe würden sich lediglich gegen britische Soldaten richten, befanden sich immer wieder auch Zivilisten unter den Opfern. In Unna beispielsweise wurde die deutsche Ehefrau eines britischen Oberfeldwebels am Steuer ihres Autos erschossen, weil die Täter sie aufgrund des britischen Kennzeichens für eine Armeeangehörige hielten. In der niederländischen Grenzstadt Roermond fielen zwei australische Touristen einer ähnlichen Verwechslung zum Opfer. Die IRA bekannte sich zu diesen Vorfällen und drückte ihr Bedauern aus, führte ihren „Kampf“ auf deutschem Boden jedoch unbeirrt weiter.

Ein Spürhund der Royal Air Force Police durchsucht einen Kofferraum nach Waffen und Sprengstoff, nachdem die IRA 1988 einen Anschlag auf Mitarbeiter des britischen Militärflughafens Laarbruch verübt hatte. (Imperial War Museum, CT 446)

Der Versuch der IRA, eine stete Bedrohungslage zu erzeugen, zeigte Wirkung: Die britischen Soldaten zogen sich in ihre immer stärker bewachten Kasernen zurück und befolgten verschiedene Sicherheitsstrategien, bewegten sich beispielsweise in Zivil durch die Öffentlichkeit und wechselten regelmäßig ihren Arbeitsweg, um bloß keine Routinen erkennen zu lassen. „Stay alert, stay alive!“ warnte der britische Soldatensender BFBS mehrmals täglich seine Zuhörer:innen mit der in Ulster üblichen Parole – die nordirischen „troubles“ waren in der Bundesrepublik angekommen. Die Gewalt der IRA beeinträchtigte nicht nur das bis dahin vergleichsweise ruhige Leben der Soldaten in Deutschland, die hier ihre Zeit zwischen den Einsätzen in Nordirland verbrachten, sondern auch das Zusammenleben zwischen Deutschen und Briten. Der ohnehin begrenzte Kontakt der Soldaten mit der deutschen Bevölkerung wurde weiter eingeschränkt, auf beiden Seiten herrschte Furcht und Schrecken.

Der Tag nach dem zweiten IRA-Anschlag in Münster. Links: Einschusslöcher an der Außenmauer der York-Kaserne. Rechts: Spurensicherung auf dem blutigen Gehweg (Fotos: Jürgen Peperhowe, Westfälische Nachrichten, 4.9.1989)

„Was soll ich machen? Es gibt nichts, was einen Verrückten davon abhalten könnte, hier eine Bombe reinzuwerfen“, zitierten die Westfälischen Nachrichten am 9. September 1989 den Wirt einer von zahlreichen Briten besuchten Kneipe in Münster. Gut eine Woche zuvor waren zwei in zivil gekleidete britische Soldaten in der Nähe der York-Kaserne in Münster-Gremmendorf niedergeschossen wurden, nachdem sie eine Frage nach dem Weg auf Englisch beantwortet hatten. Zudem waren die etwa 9.000 in Münster stationierten Briten und ihre Familien wochenlang mit Bombendrohungen verunsichert worden. Der Stabschef der britischen Rheinarmee in Münster hielt Anschläge auf sowohl von Briten als auch Deutschen besuchte Restaurants und Gaststätten zwar für unwahrscheinlich – die IRA lege immerhin Wert auf „good publicity“ in der deutschen Bevölkerung – riet aber dennoch zu „extreme[r] Vorsicht“ (Westfälische Nachrichten, 9.9.1989). Teilweise würden in den Lokalen, so berichteten die Westfälischen Nachrichten weiter, deutsch- und englischsprachige Türsteher gezielt verdächtige Personen und Tascheninhalte kontrollieren, auch ein Sprengstoffspürhund sei bereits zum Einsatz gekommen.

Die Presse schürte Angst vor weiteren Anschlägen und zivilen Opfern. (Westfälische Nachrichten, 4.9.1989)

Diese Art der Berichterstattung insbesondere in den deutschen Lokal- und Regionalzeitungen trug ihren Teil dazu bei, dass die Taten der IRA ihre angsteinflößende Wirkung entfalten konnten. So warnte die Münstersche Zeitung nach dem zweiten Attentat in Münster vor drohenden Sprengstoffanschlägen (Münstersche Zeitung, 2.9.1989), die Westfälischen Nachrichten titelten: „Der IRA-Terror droht überall und jederzeit“ (Westfälische Nachrichten, 4.9.1989). Die gewalttätige Botschaft der IRA, in erster Linie an die britische Öffentlichkeit und insbesondere an die britischen Soldaten gerichtet, rief damit auch in der deutschen Bevölkerung Verunsicherung und Angst hervor. Nach einem Anschlag in Hannover im Juli 1989 warnte die Frankfurter Allgemeine Zeitung: „Rücksicht auf Zivilisten in der Schußlinie wird nicht genommen, egal ob sie Briten oder deutsche Nachbarn des Opfers sind“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.7.1989). Aus den Angriffen auf britische Militäreinrichtungen und Armeeangehörige in Nordrhein-Westfalen machten die Medien in der Rückschau eine „Terrorwelle in der Bundesrepublik“ (Die Zeit, 24/1990), die auch vor Deutschen keinen Halt mache. Die Hoffnung der IRA, in der deutschen Bevölkerung Sympathie für den irischen „Freiheitskampf“ hervorzurufen, erwies sich damit als Illusion.

Nach dem Ende der zweiten Anschlagserie blieb es für sechs Jahre lang ruhig, bevor IRA-Mitglieder im Jahr 1996 einen letzten Angriff auf die Quebec-Barracks in Osnabrück durchführten. Aus einem Ford-Transit heraus beschossen sie die Kaserne mit drei Mörsergranaten, von denen nur eine zündete. Menschen wurden nicht verletzt. Die polizeilichen Ermittlungen liefen bei den meisten Anschlägen ins Leere, doch konnten in diesem Fall mehrere Verantwortliche ausfindig gemacht werden. Allerdings erschwerte die 1998 in Irland erlassene Amnestie für ehemalige Terroristen die Strafverfolgung der deutschen Justiz, die sich teilweise über Jahrzehnte hinwegzog. Wegen dieses und eines weiteren Angriffs auf die Quebec-Kaserne im Sommer 1989 wurden insgesamt sieben Personen zu Haftstrafen verurteilt, das letzte Urteil fiel im Jahr 2017.

Weitere Informationen:

Im Wintersemester 2014/15 erarbeiteten Studierende der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster im Rahmen eines Forschungsseminars eine Online-Reportage zu den IRA-Anschlägen in der Bundesrepublik, siehe http://ira.historify.de/.

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