Was ist ein Buernöhm und durch welches Verhalten zeichnet er sich aus?

22.09.2020 Niklas Regenbrecht

Sieht so ein Buernöhm aus? Alter Mann auf einem Hof, Fotograf und Datierung unbekannt, Archiv für Alltagskultur in Westfalen, 2015.00997.

Was ist ein Buernöhm und durch welches Verhalten zeichnet er sich aus?

Niklas Regenbrecht

„Begriffsbestimmung: Unter einem Buernöhm versteht man einen nachgeborenen Bauernsohn, der mangels Erlernung eines nicht landwirtschaftlichen Berufs lebenslang auf dem sich im Besitz seines älteren Bruders befindenden elterlichen Hof gegen geringes Entgelt und Sicherung seines Lebensunterhalts in gesunden Tagen mitarbeitete.“

So definierte der Bauernsohn und ehemalige Lehrer Heinrich L. in seinem Bericht an das damalige Archiv für westfälische Volkskunde (heute Archiv für Alltagskultur in Westfalen) vom August 1968 eine Form der Lebensgestaltung. Zeitlich bezog sich sein Bericht „aus eigenem Erleben von 1907 bis 1925“, wobei er für die Beschreibung eine „Geltungsdauer mindestens bis sicher 100 Jahre vorher und 20 Jahre nachher“ annahm. Zur Häufigkeit der „Öhms“ konnte der Berichterstatter auf das Dorf seiner Jugend verweisen, in dem es auf 40 Höfen 17 Öhms gegeben haben soll.

Sprachlich sei vor dem Ersten Weltkrieg die Bezeichnung „Öhm“ üblich gewesen, danach habe sich „Onkel“ durchgesetzt: „Gefördert wurde diese Umbenennung hauptsächlich von den Nichten der Öhms, weniger von den Neffen. Das hing mit der weiblichen Eitelkeit zusammen, und diese siegte, als man von dem Öhm einen Onkel machte. Dieser Vorgang kann als die Urwurzel des Einsetzens der hochdeutschen Sprache im platten Münsterland angesehen werden.“ Sprachgeschichtlich sicher eine zu hinterfragende Annahme, doch handelt es sich dabei auch gar nicht um den Kern des Berichtes. Dieser ist in einer Beschreibung des Verhaltens der „Öhms“ und in einer Typologie ihrer Persönlichkeiten zu sehen.

Das Verhalten und die Aufgaben auf einen Hof charakterisierte Heinrich L. ähnlich wie etwa in der volkskundlichen Literatur ein Großknecht oder Verwalter beschrieben wird. Was sich liest, als hätte der Verfasser eine bestimmte Person vor Augen gehabt, wird hier mit dem Anschein von Allgemeingültigkeit formuliert:

„Im Normalfall betätigte sich der Öhm als Gespannführer auf dem Hof, half aber auch bei allen Arbeiten außer beim Melken mit. […] Der Öhm stand morgens als erster auf, hielt kurze Umschau auf der Tenne und weckte dann die andern. […] Als Lohn erhielt der Öhm Kost, Kleidung sowie Tabak, falls er rauchte. Ab und zu bekam er 3, 5 oder 10 Mark und jeden Sonntag 50 Pfennig als Zehrgeld. Nach der Messe kaufte er sich dafür 3 Zigarren, Sorte 3 zu 20, trank 3 Schnäpse zu je 5 Pfennig und behielt noch 15 Pfennig übrig. Im Herbst und Winter verbrachte er die Feierabende am Herdfeuer, indem er die Zeitung las oder sich unterhielt. […] Im Frühjahr und Sommer spazierte er abends an den Feldfrüchten vorbei, hielt mit den Nachbarn ‚Pröhlkes‘ über die Hecke, oder er legte sich ins Gras.“

Anschließend entwickelt L. eine dreiteilige Typologie jener „Öhms“. Es habe erstens herrschsüchtige, zweitens gesellschaftliche und drittens duldende und aufbrausende „Öhms“ gegeben.

„Der herrschsüchtige Öhm verstand es, die gesamte Hof- und Wirtschaftsführung, einschließlich der Kasse, unter seine Kontrolle zu bringen. Das Besitzerehepaar kapitulierte vor ihm entweder des lieben Friedens wegen oder aus geistiger Unterlegenheit heraus. Höfe mit herrschsüchtigen Öhms lagen in starker Hand und florierten meistens wirtschaftlich. Ich kannte 2 Öhms dieser Art.

Der gesellschaftliche Öhm vertrat den Hof nach außen in Versammlungen und auf Festen. In ihm konzentrierte sich Bauernstolz. Geistig war er seinem Bruder, dem Hofbesitzer, überlegen. Sein gesellschaftliches Bedürfnis ging über die dörflichen Verhältnisse und Gegebenheiten hinaus. Auch von dieser Art kannte ich 2 Öhms. […]

Duldende und aufbrausende Öhms traten in Erscheinung, wenn der Hofbesitzer wenig mitarbeitete, viel die Wirtshäuser besuchte sowie überhaupt, wenn durch seine Lebensweise die Existenz des Hofes in Gefahr geriet. Der duldende Öhm nahm das schweigend hin, arbeitete immer mehr und immer länger, nur um den Hof vor dem Untergang zu bewahren. Der aufbrausende Öhm dagegen machte dem Hoferben wegen seiner Lebensweise Vorhaltungen; es gab Familienkrach. Es ist mir ein Fall bekannt, wo bei Gelegenheit eines solchen Krachs der Öhm mit der Axt aus dem Mobiliar Kleinholz machte.“

Zur Zeit der Niederschrift dieses Textes, im Jahr 1968, sah Heinrich L. das Phänomen verschwinden. Auf der sachlich-inhaltlichen Ebene, fördert der Bericht nur bedingt neue oder überraschende Erkenntnisse zu Tage. Der Bericht ist aber dennoch interessant, da er Aufschluss gibt, wie ein nachgeborener Bauernsohn, der nicht zum „Öhm“, sondern zum Lehrer wurde, in der Rückschau über gesellschaftlicher Zustande und bäuerlicher Familienkonstellationen reflektierte und seine Erinnerungen zur allgemeinen Aussagen formte. Er zeigt, wie über einzelne Lebensentwürfe nachgedacht wurde und wie dies mit dem Wunsch nach Typologien in Einklang gebracht wurde. Wie der bilanzierende Vergleich und das abschließendes Urteil von Heinrich L. zeigte, war dieses jedoch auch von Hochachtung geprägt:

„Die Normalöhms waren hochvollkommene Menschen. Sie erfüllten widerstandslos die sonst nur an Ordensleute gestellten schweren Anforderungen der persönlichen Armut, des dienstlichen Gehorsams unter dem Hoferben und der Ehelosigkeit.“ Oder um es auf den Punkt zu bringen: „Buernöhms lebten auch in einem Zölibatszwang, aber ‚sie starben trotzdem nicht aus.‘“

 

Buernöhms, Archiv für Alltagskultur in Westfalen, MS03255.