Das Geheimnis des Töttchens. Woher stammt der Name des münsterischen Traditionsgerichts?

30.04.2024 Marcel Brüntrup

Christof Spannhoff

Spezielle Traditionsgerichte wie beispielsweise Töttchen verhelfen der Tourismusregion Münsterland bis heute zu Lokalkolorit, Münster, um 1965. (Foto: Herwig Happe, Alltagskulturarchiv, Sign. 2015.00370).

Die Wintermonate sind die Zeit für deftige Eintopfgerichte. Dazu gehören auch Ragouts. Typisch in Münster und im Münsterland ist das sogenannte Töttchen – ein Schmorgericht, das heute aus Kalbfleisch und Kalbszunge mit cremiger Soße bereitet wird. Allerdings ist die heutige Zubereitung nicht mehr original. Die Zutaten haben sich im Lauf der Jahrzehnte stark verändert. So schreibt der aus dem Osnabrücker Land stammende und in Münster lehrende Volkskundler Franz Jostes (1858–1925) in seinem 1904 erschienenen „Westfälischen Trachtenbuch“: „Ein spezifisch münsterländisches Gericht ist das ‚Tötken‘, das aus dem kleingeschnittenen Maul und Magen der Kuh (jetzt verwendet man Kalbsköpfe dazu) bereitet wird. In den altmünsterländischen Wirtschaften essen es am Sonntagmorgen die Bürger zum Frühstück und trinken dabei den einen oder andern ‚Alten Klaren‘“. Und der Dortmunder Volkskundler Paul Sartori (1857–1936) berichtet 18 Jahre später in seiner „Westfälischen Volkskunde“ von 1922: „An bestimmten Tagen, namentlich Sonntags [!], wird zum Altbier das ‚Töttken‘, ein Ragout von Kalbskopf, verabreicht. Auch gehört ein ordentlicher Kornschnaps, der ‚Alte Klare‘ dazu.“ Der Schnaps blieb gleich, die verwendeten Teile des Kalbes wurden allerdings aufgewertet.

Französischer Ursprung?

Doch woher stammt eigentlich der merkwürdige Name für das Traditionsessen? 2013 meinte man in Warendorf, wo das Töttchen besonders gerne Mitte Oktober zum „Fettmarkt“ gegessen wird, des Rätsels Lösung gefunden zu haben. Und zwar berief man sich auf das 1984 publizierte Kochbuch „Kulinarische Streifzüge durch Westfalen“ von Roland Gööck, das sich neben den Köstlichkeiten der westfälischen Küche auch dem Ursprung und der Tradition der westfälischen Kultur widmet. Dort heißt es über das Töttchen: „Eine Münsterländer Spezialität, die vor allem als kleines Zwischengericht zum Bier immer beliebter wird. Ursprünglich wurde das pikante Ragout aus Kalbskopf, -lunge und -herz zubereitet. […] In der französischen Küche wird diese spezielle Zubereitung ‚en tortue‘ (auf Schildkrötenart) genannt. Es heißt, französische Soldaten hätten das Rezept nach Westfalen mitgebracht. Aus ‚en tortue‘ sei die heutige Bezeichnung ‚Töttchen‘ geworden.“ Der Volksmund meint sogar den Ort der Entstehung zu kennen. So sei Schloss Wilkinghege bei Münster im Siebenjährigen Krieg (1756–1763) Hauptquartier der französischen Armee gewesen. Die Einheimischen sahen damals die Franzosen etwas essen, was man heute allgemein Ragout Fin nennt und den Münsteranern seinerzeit fremd war. Also erkundigten sie sich, um was es sich dabei handelte. Man antworte ihnen, das sei „Tête de veau en tortue“, also „Kalbskopf nach Schildkrötenart“, woraus die sprachfremden Münsteraner „Töttchen“ gemacht und dann die französische Spezialität mal besser, mal schlechter selbst hergestellt hätten. In Wolbeck glaubt man hingegen fest, dass das erste Töttchen von einem französischen Küchenmeister auf einer Treibjagd im Wolbecker Tiergarten schon im 17. Jahrhundert aus einem Kalbskopf gezaubert wurde und selbst dem obersten Jagdherrn, Fürstbischof Christoph Bernhard von Galen (1606–1678), vorzüglich geschmeckt habe.

Westfälisch-bodenständig

Allerdings werden den Franzosen viele Begriffsursprünge zugeschrieben, die sich bei genauerem Hinsehen als Fabel erweisen. Auch das münsterländische Töttchen hat keinen exklusiv-französischen Hintergrund, sondern einen heimisch-westfälischen. Die bei Franz Jostes und Paul Sartori genannten Belege zeigen, dass die heutige Form Töttchen verhochdeutscht wurde und die ursprüngliche Lautung Töttken war, von der die Erklärung auszugehen hat. Es handelt sich um eine Verkleinerungsform, die im Niederdeutschen mit der Endsilbe (Suffix) -ken gebildet wird (Kump und Kümpken; Pogge und Pöggsken). Im Hochdeutschen entspricht -chen, wie bei Brot und Brötchen. Analog dazu ergibt sich somit der Wortstamm Tott (mit Auslautverhärtung) oder Todde. Dieser plattdeutsche Ausdruck, eng verwandt mit hochdeutsch Zotte, meint ‚Stück, Stückchen, Fetzen‘. Dazu gehört auch altnordisch toddi ‚Stückchen‘ oder mittelniederdeutsch toddelen ‚zotteln‘. Das ganze Wortfeld stellt sich zu indogermanisch *dət- ,teilen, zerreißen, zerschneiden‘. Tott/Todde bezeichnet also das kleingeschnittene Fleisch. Als Täterbezeichnung wurde daraus der „Todder“ (1756), der Schlachter oder Wurstmacher, der von der „Todderbank“ aus seine Ware an den Kunden brachte. In Osnabrück sind Fleischer mit der Bezeichnung „Totter“ schon 1414 in den Stadtrechnungen belegt.

Historisches Umfeld

Dass der Begriff Töttchen in diesem historischen Umfeld seinen Ursprung hat, zeigt auch sehr deutlich eine Stelle im bekannten plattdeutschen Roman „Frans Essink, sin Liäwen un Driwen äs aolt Mönstersk Kind“, der von Franz Giese (1845–1901) und Hermann Landois (1835–1905) verfasst und 1874 erstmals veröffentlicht wurde:

Soweit bisher bekannt wird der Name Töttken für das bekannte münsterische Gericht erstmals im niederdeutschen Roman „Frans Essink“ genannt. Hier der Titel der 2. Auflage aus dem Jahr 1875. (Foto: Spannhoff)

„Wenn sick Frans Sundags Muorgens wat te guede dohn wull, holl he sick van de Scharre en Töttken bineene. De Schlächters pocken em üöwerall an. Sien Naober Schwatte reip: ‚Här Essink, niehmen Se düssen Antvuegel, odder düt Piepenstück [beides Teile vom Oberschenkel des Rindes], auk häwwe ick noch so‘n schönen Betogg [Bauchmuskelstück vom Rind].‘ – ‚Kann’t nich bruken, Här Naober‘, – ‚ick häwwe all düssen Muorgen en gans Vüördelveerdel van en Kalw kofft. Häww Ji nich füör mienen Rüen en bietken Afgefall un Bilaoge? Dao ligg jä en Stück Spünder, giewt mi daobi en Stücksken Wamke un en lück Lünksel, de junge Jagdrüe frätt mi de Aohren van en Kopp.‘ – ‚Jau, – sagg Schlächter Schwatte – Naober, niemt dat men met, ick haoll mi füör’t neigste maol rekommdeert.‘ Frans lachede all in sien Füstken. De ganße Wiäke ruok et dann bi Essinks Husdüör so delikaot nao Siepeln un braoden Fleesk, dat Eenen dat Water üm de Tiäne leip. Den Rüen spielde Frans bi düsse Geliägenheit sölwer. De Schlächters kreegen Frans baolle up de Mucke; se miärkeden den Braoden, dat he nich füör sienen Rüen biäddelde, he att dat Lünksel sölwst.“ Der Protagonist ergaunert sich also – unter Vorspiegelung der Tatsache, einen Hund zu besitzen – von den Fleischhauern an ihren Ständen kostenlos das nötige Kleinfleisch für sein Töttchen: Teile vom Euter (Spünder), Pansen vom Rind (Wamke) sowie dessen Herz- und Lunge (Lünksel).

Die Nennung des Gerichts Töttchen im Roman aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist übrigens eine der frühesten Erwähnungen. Weiter kommt man nach bisherigem Kenntnisstand nicht zurück. Möglicherweise geht aber der Familienname eines 1440 genannten münsterischen Einwohners namens „Johann Toddeken“ auf das Töttchen zurück. Das wäre dann indirekt ein sehr früher Nachweis.

Fazit

Man kann also für die wortgeschichtliche Entwicklung des Töttchens zusammenfassen: Als lautliche Entwicklung ist von der Urform *Töddeken auszugehen, die dann durch Ausfall des e und die dadurch bedingte Verhärtung des d zu t im Auslaut zum in der zweiten Silbe verhochdeutschten Töttchen (-ken > -chen) wurde. Es handelt sich um keinen verballhornten französischen Ausdruck, sondern um ein Gericht, das seine Zutaten im Namen trägt, nämlich Kleinfleisch und Innereien.