Der 10. Oktober 1943 in Münster in den Tagebüchern einer Jugendlichen

10.10.2025 Niklas Regenbrecht

Blick auf das zerstörte Rathaus, die Straßen sind schon von den Trümmern geräumt, Foto Herwig Happe, Archiv für Alltagskultur in Westfalen, 2015.00419.

Niklas Regenbrecht

Der 10. Oktober 1943 hat sich tief in das historische Gedächtnis der Stadt Münster eingeprägt. An jenem Tag des Zweiten Weltkriegs fand im Rahmen des Luftkriegs der erste Tagesangriff und zugleich der schwerste Angriff auf die Stadt überhaupt statt.

Zu diesem Zeitpunkt hatte sich der Luftkrieg, der mit Beginn des Zweiten Weltkriegs in die vom Deutschen Reich überfallenen Nachbarländer und nach Großbritannien getragen worden war, längst gegen das Deutsche Reich gekehrt. Die Bombardierungen durch britische und US-amerikanische Verbände richteten sich nun nicht mehr nur gegen industrielle und militärische Infrastruktur, sondern als Teil der psychologischen Kriegsführung auch gegen die Zivilbevölkerung, um deren Durchhaltewillen zu schwächen.  

Der Angriff an diesem sonnigen Sonntagnachmittag traf die belebte Münsteraner Innenstadt und forderte eine hohe Opferzahl (nach statistischen Angaben der Stadt 473 Zivilisten und rund 200 Soldaten). Die etwa 230 Bomber der US-Air Force, die in England gestartet waren, legten große Teile der Innenstadtgebäude in Trümmern. Neben der hohen Zahl an menschlichen Opfern ist das der Grund, warum dieser Angriff unter den über 100 Luftangriffen auf die Stadt in Erinnerung geblieben ist. Der 10. Oktober 1943 in Münster hat Widerhall gefunden in Ausstellungen, Veröffentlichungen von Berichten deutscher und alliierter Zeitzeugen, angesichts von Jahrestagen in Beiträgen in Presse oder Heimatzeitschriften. Er ist umfangreich dokumentiert in einem Ausstellungskatalog des Stadtmuseums von 1983, fand aber auch Eingang in die US-Populärkultur der Kriegsfilme.  

Auch in den Tagebüchern einer zu diesem Zeitpunkt 16-jährigen Jugendlichen wurden der Tag, der Luftangriff und seine Folgen aus individueller Perspektive festgehalten. Renate Brockpähler wurde 1927 geboren, sie lebte mit ihren Eltern und ihrem Bruder in der Saarbrücker Straße im Süden von Münster und führte seit 1938 Tagebuch. Im Herbst 1943 war sie Schülerin der Freiherr vom Stein-Oberschule, an dem betreffenden Sonntagnachmittag war sie mit Gartenarbeiten befasst.

Luftangriffe bei Tag waren in Münster bislang nicht vorgekommen. Auch spielte das sonnige klare Wetter nicht nur den alliierten Piloten, sondern auch der deutschen Luftabwehr in die Hände, sodass viele Menschen wohl nicht ernsthaft mit einem Angriff gerechnet hatten. So wurden nicht nur viele Menschen in der Innenstadt überrascht, auch Renate Brockpähler und ihr jüngerer Bruder wurden im Schrebergarten der Familie auf der Habichtshöhe im Süden von Münster unvorbereitet Zeugen des Angriffs. Trotz bereits herrschenden Alarms wurden die Kinder von ihrer Mutter noch in den Garten geschickt.

Beginn des Tagebucheintrags vom 10.10.1943, Archiv für Alltagskultur in Westfalen, K02543.

„Nachmittags gegen 3 Uhr Alarm; Wolf und ich sollten aber noch schnell in den Garten, um Rote Rüben zu holen für Oma, weil Vati nach Benninghofen will. ‚Tagesalarm ist ja nicht so schlimm‘ sagte Mutti. Es kam aber anders! Kaum hatten wir eine Anzahl Rüben ausgemacht, begann plötzlich die Flak zu schießen. Sonst nahmen wir das nicht so tragisch, aber ich hatte solch eine Unruhe im Blut heute. Ich rannte zur Laube und schloß sie ab. Dann taten wir die Rüben in eine Tasche. Plötzlich wummerte die schwere Flak los, und wir hörten, ganz dicht über uns Flugzeuge. Da ließen wir alles stehn und liegen, nahmen einen Anlauf und sprangen über den Zaun. Wir rannten in den Keller der Wirtschaft ‚zur dicken Linde‘. Viele Leute saßen unten, aber auch oben vor der Tür standen welche, und sahen sich alles ruhig an. Leichtsinn! Als das Schießen aufhörte, kletterten wir wieder in den Garten und stellten die Räder rein, an die Laube, und nahmen die Taschen mit. Wieder Motorengebrumme und Schüsse, wieder rüber. Als es schließlich ganz ruhig war, fuhren wir nach Hause. Wir ahnten noch nichts. Unterwegs hörten wir, daß bei Veldtrups ein abgeschossener Bomber läge, den wollten wir uns nachher ansehen. Nach der Entwarnung gingen Melitta und ich los. Wolf brachte Vati zum Bahnhof. Bei Veldtrup brannte der Bomber. Er war auf ein Gartenstück gefallen. Weit kamen wir nicht. An der Hammerstraße war schon gesperrt. Über der Stadt lag eine dunkle, dichte Rauchwolke, unheilverkündend. Wir sahen einen Gefangenen, (Amerikaner) von einem Schutzmann geführt, von haßerfüllten Blicken der Bevölkerung gestreift. Wir kehren um. Vati und Wolf sind wiedergekommen; Züge fahren nicht, der Bahnhof ist getroffen. Sie erzählen: Sie haben eine Fahrt durch das brennende Münster gemacht. Auf der Hammerstr., Augustastr., Industriestr., Bahnhofstr., überall, wo sie herkamen, brannte es und waren Sprengbomben gefallen. Das Landeshaus hatte mehrere Treffer, unsere Schule allerlei Schaden, nebenan ein Großfeuer, die Promenade mit Trichtern übersät.“ (Tagebucheintrag vom 10.10.1943)

Auch die Tagebucheinträge der folgenden Tage beinhalteten nur dieses eine Thema. Ohne Anlass in die Stadt zu gehen – ausgenommen ihre Neugier – schilderte Renate Brockpähler einen ‚katastrophentouristischen‘ Spaziergang am nächsten Vormittag:

„Die Schäden in der Innenstadt sehe ich erst am anderen Tag. Furchtbar ist unsere schöne Stadt verwüstet. Der Splittergraben auf dem Marienplatz und am Kanonengraben hat einen Treffer, viele Tote. Kinos! Hettlage ist völlig zerstört, aber dort sind keine Toten. Ab Cloer sind nach der Stadt zu bis zur Klemensstraße alle Häuser niedergebrannt, Sparkasse auch schwer beschädigt. Der Dom hat Brand- und Sprengbombenschäden, Coppenrath und 2 andere Häuser mit den schönen Giebeln sind abgebrannt (Diese qualmten noch tagelang hinterher.) In der Salzstraße schwere Treffer (Althoff) Am alten Steinweg ebenfalls. Die Häuserreihe von der münsterschen Ztg. bis Ecke Neubrückenstraße (u.a. Buschmann, Baaden) völlig ausgebrannt, nur die schwarzen Giebel ragen noch unheimlich hoch. Gegenüber ähnlich (Greve) Lambertikirche sehr verwüstet, Neubrückenstraße mehrere Treffer, Hildegardisschule auch schwerbeschädigt. Die Straße zum Kiepenkerl runter ist gesperrt, dort brennt es noch sehr, wie auch an vielen anderen Stellen. In Clemenshospital kamen viele Schwestern um. Eine Ärztin fand einen schrecklichen Tod im brennenden Fahrstuhl zwischen 2 Stockwerken. Am schlimmsten sah die Ägidistr. aus, Haus bei Haus. Morgens war ich in die Stadt gekommen. Mittags kam nicht wieder raus, weil inzwischen alles abgesperrt war. Nach langem Umherirren komm ich schließlich hinten an der Piusallee 'raus.“ (Tagebucheintrag vom 11.10.1943)

Diesen Tagebucheintrag hat Renate Brockpähler offenbar im Bewusstsein geschrieben, Zeugin eines bedeutenden Ereignisses geworden zu sein, dessen politische Reichweite ihr als Jugendliche gleichwohl nicht klar war. Es wird deutlich, dass der Eintrag mehrere Tage nach seiner eigentlichen Datierung verfasst worden sein muss. An anderer Stelle in den Tagebüchern hielt Renate Brockpähler fest, dass sie gelegentlich Eintragungen anhand von Notizzetteln nachholte. Ob diese dadurch emotional distanzierter oder strukturierter wurden, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. In jedem Falle war es so möglich, spätere Kenntnisse einzuflechten („Diese qualmten noch tagelang hinterher.“) und auch Wissen aus anderen Quellen einzubinden. Vorkommnisse wie den erwähnten Tod der Schwestern im Krankenhaus kann sie kaum aus eigener Zeugenschaft mitbekommen haben, sondern nur aus Erzählungen anderer. Oder wie in diesem konkreten Fall aus der Zeitung: Der Tod der Schwestern wurde in der Westfälischen Tageszeitung, die Renate Brockpähler nachweislich las, propagandistisch ausgeschlachtet – allerdings erst zwei Tage nach dem Datum des entsprechenden Tagebucheintrags („Der Schwesternmord von Münster“, Westfälische Tageszeitung vom 13.10.1943).

Bomberformation der US-Air Force (Boing B-17), aufgenommen in Münster, vermutlich am 10.10.1943, Foto Herwig Happe, Archiv für Alltagskultur in Westfalen, 2015.00611.

Die Schülerinnen und Schüler erhielten „Bombenferien“. Viele Schulen waren zerstört und bei den Aufräumarbeiten wurden vorgeblich viele Hände benötigt. Für Renate Brockpähler stellte sich das ungewöhnliche Problem, dass niemand ihre Hilfe in Anspruch nehmen wollte: „Es müssen doch viele Hände gebraucht werden in der Stadt. Aber wo ich anfrage, braucht man mich nicht.“ (Tagebucheintrag vom 12.10.1943) Erst Tage später, am 15. Oktober fand sie eine Gelegenheit zum Mithelfen, sie transportierte mit anderen Lehrern und Schülern intakte Möbel aus einer zerstörten Schule in ein Ausweichquartier.

Renate Brockpählers Tagebucheintragungen der nachfolgenden Zeit offenbaren – neben Wut und Selbstmitleid – die Erkenntnis, dass der Krieg nun endgültig auch in ihrer Heimat angekommen war. Dabei zitierte sie auch die Durchhalteparolen des Gauleiters Alfred Meyer. Bis sie zu der Erkenntnis kommen sollte – bzw. sich trauen sollte, diese in ihren Tagebüchern festzuhalten –, dass auch sie der Propaganda eines verbrecherischen Regimes auf den Leim gegangen war, sollte es noch bis kurz vor Kriegsende dauern. 

 

Hinweis: Die Tagebücher von Renate Brockpähler werden demnächst von der Kommission Alltagskulturforschung für Westfalen als Edition herausgegeben.