Die Familie und die Mode

04.05.2021 Niklas Regenbrecht

Publikation "Mode.Land. Ein Textilfabrikant fotografiert, 1900–1925"

Niklas Regenbrecht

Die eigene Familie war das bevorzugte Fotomotiv des münsterländischen Textilfabrikaten Carl Bauer (1873–1963) aus Laer im Kreis Steinfurt. Dessen Fotobestand aus den Jahren 1900 bis 1925, der in Form von rund 400 Glasplattennegativen überliefert ist, stellt die Grundlage für den Band „Mode.Land“ dar, der von Michaela Haibl und Gudrun M. König herausgegeben wurde. Dieser Band ging – ebenso wie eine (aus Pandemiegründen verschobene) Ausstellung – aus einem Lehrforschungsprojekt der Herausgeberinnen an der TU Dortmund hervor.

In insgesamt acht Beiträgen gehen die Verfasserinnen Fragen nach, die der einleitende Aufsatz von Gudrun M. König als „visuelle Analyse der Kleidungsmode als Signatur der Moderne“ (S. 7) zusammenfasst. Privatfotografie werde als Quelle für Textil- und Modegeschichte herangezogen, genauer gesagt für die ländliche Kleidung einer dörflichen Oberschicht in einem westfälischen Dorf zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Und weiter: „Zentral ist die Frage nach der Mode auf dem Land. Wer trägt was? Wie werden Situationen, Sozialrollen und Geschlechter durch welche Kleidungen und Accessoires im Bild definiert? Die Studie zielt darauf ab, über die Funktionsanalyse des Fotografierens im familiären Umfeld Kleidungsgeschichte zu schreiben und eine Re-Vision der Mode auf dem Land vorzunehmen.“ (S. 8) Der überwiegende Teil der untersuchten Aufnahmen bildet die Familie des Fotografen ab, darüber hinaus zeigt sich anhand des Bestandes aber auch Experimentierfreude was Bildtechniken und Arrangements angeht. Hinzu kommen Aufnahmen anderer Dorfbewohner, des dörflichen Alltags und der Landschaft, was zur Charakterisierung des Fotografen Bauer als „Wanderer zwischen den Bildwelten der Atelierfotografie und der sozialdokumentarischen Fotografie“ (König, S. 17) führt.

Nach dieser allgemeinen Einordnung befassen sich die folgenden sieben Aufsätze mit jeweils unterschiedlichen Aspekten oder Objekten der auf den Fotografien abgebildeten Kleidung. Im Einzelnen werden untersucht: die Silhouette, der Matrosenanzug, Hüte, Schürzen, Strickwaren, die textile Gestaltung des Heims, worunter vor allem Tischdecken gefasst werden, sowie abschließend der Schmuck.

Der Beitrag über den Matrosenanzug (Xiaoying Xu) beispielsweise untersucht die in den Jahren des Untersuchungszeitraumes beliebteste Kinderkleidung und den scheinbaren Widerspruch zwischen Uniformierung einerseits und einer durch den weiten Schnitt der Anzüge bedingten Bewegungsfreiheit andererseits. Es wird die Frage diskutiert, inwiefern politische Haltung oder bürgerliche Inszenierung durch diese Art der uniformierten Massenmode für Kinder zum Ausdruck kommt.

Die Schürze (Pia Schepers) hingegen wird im Hinblick auf die „multiplen Bedeutungsdimensionen […] bezüglich des Trageanlasses, der Geschlechterhierarchie sowie der Klassendifferenz untersucht.“ (S. 101) Diese Kleidungsstücke wurden nicht nur von arbeitenden Frauen und Männern getragen, sondern fanden ihre Funktion auch als Zierschürze oder Kinderschürze.

Ein weiterer Beitrag (Catharina Feddersen) widmet sich Heimtextilien, vor allem Tischdecken, also Objekten, die bei den zahlreichen Aufnahmen von Tischgesellschaften eher zufällig mit im Bild sind: „Die Heimtextilien sind achtlos mitaufgenommen, gleichwohl ein einschlägiges Beiwerk, das den halböffentlichen Lebensraum zwischen Privatheit und Repräsentation dokumentiert. Der auf den Fotos abgebildete Stilpluralismus verweist auf den Bestand von Traditionen und zeigt zugleich den konsumbedingten Wandel, der sich am Geschmacksdiskurs der zeitgenössischen Konsum- und Ratgeberliteratur orientiert.“ (S. 158)

Die Beiträge vermitteln in ihrer Gesamtheit ein anschauliches Bild der textilen Kultur einer ländlichen Oberschicht in Westfalen. Der Band demonstriert, dass bei Fragen der Mode- und Kleidungsgeschichte auch des 20. Jahrhunderts der ländliche Raum ein lohnendes Untersuchungsgebiet darstellt. Er ist reich bebildert und zeigt auf, wie man gewinnbringend mit einem relativ geschlossenen Bestand familiärer Fotografie umgehen kann, wenn man genau hinsieht und auch scheinbare Nebensächlichkeiten in den Blick nimmt.

 

Bibliographische Angaben: Michaela Haibl, Gudrun M. König (Hg.): Mode.Land. Ein Textilfabrikant fotografiert, 1900–1925, Waxmann-Verlag, Münster 2020.