Ein schwermütiges, Festivitäten ganz abgeneigtes Völkchen: Die Tecklenburger in den Augen eines preußischen Beamten

05.12.2025 Niklas Regenbrecht

Seiner Landesbeschreibung fügte August Karl Holsche eine Karte der Grafschaft Tecklenburg bei, in: August Karl Holsche, Historisch-topographisch-statistische Beschreibung der Grafschaft Tecklenburg nebst einigen speciellen Landesverordnungen mit Anmerkungen, als ein Beytrag zur vollständigen Beschreibung Westphalens, Berlin/Frankfurt an der Oder 1788. (Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb10019639?page=613)

Sebastian Schröder

In seiner voluminösen Landesbeschreibung der Grafschaft Tecklenburg aus dem Jahr 1788 berichtete der preußische Beamte Karl August Holsche unter anderem „Von der Bevölkerung“ sowie „Vom Charakter und sittlichen Betragen“ der Tecklenburgerinnen und Tecklenburger. Zum einen präsentierte er das, was heute Kennzahlen genannt wird: beispielsweise Zahlen zur Bevölkerungsentwicklung. Aber der Assistenzrat hegte durchaus Zweifel an dem von ihm recherchierten Zahlenmaterial. So zeigte er sich skeptisch, ob tatsächlich lediglich 17.234 Menschen im Jahr 1787 in der Grafschaft beheimatet waren. Möglicherweise seien einige junge Männer vor dem Militärdienst geflohen, sodass die Zahlen eigentlich höher ausfallen müssten. Laut seinen überschlägigen Berechnungen dürften wohl ungefähr 18.000 Personen im Tecklenburger Land gelebt haben. Zum anderen befasste sich der Beamte mit den Charaktereigenschaften der Einwohnerinnen und Einwohner. Seine Leserschaft erfährt: „Die Tecklenburger sind von Natur größtentheils melancholischen Temperaments, sie lieben keine öffentlichen Lustbarkeiten und keine Musik, desto eifriger opfern sie aber dem Bachus, wenn sie Gelegenheit dazu haben. Man wird keinen Tecklenburger ein Instrument spielen hören, außer die Orgel, es sey denn, daß er in seinen jungen Jahren in der Fremde gewesen und umgestimmt worden. Es wird nicht einmal eine Geige gehört, da doch in Ländern, wo die Menschen mehr zur Freude gestimmt sind, in allen Dörfern Musik gehört, öfters, ja in der Regel alle Sonntage getanzt wird, und ein jedes Dorf seine musikalische Kapelle hat. Der Grund dieser Schwermuth liegt theils in dem einsamen Leben, weil sie nicht in Dörfern beysammen, sondern in einzeln Häusern und Hütten wohnen, einer den andern nicht ermuntert und in ihrer Lebensart nichts teilnehmendes herrschet, die Landleute auch die Städte und Dörfer nicht anders besuchen, als wenn sie zur Kirche gehen oder einen Todten begleiten, sobald dies aber vorbey ist, wieder zu ihren Hausgötzen eilen, und die Jugend hieran fast gar keinen Theil nimmt, theils aber auch in ihren Nahrungsmitteln, weil sie fast nichts als Pumpernickel, Pap, große Bohnen, Pfannenkuchen oder andere Kost von Buchweitzen, welcher schwermüthig und niedergeschlagen machet, genießen, hiezu aber warm Getränke, schlechten Kaffee und Thee trinken, welches nichts weniger als heiter machet.“ Nicht einmal alkoholhaltige Getränke vermochten die Stimmung zu heben: „Bier wird fast gar nicht getrunken und es ist auch so schlecht, daß man sich dabey nicht aufheitern kann, Branntwein wird bey Schauern die Fülle getrunken, welches Getränke aber die Sinne mehr betäubet als erheitert, und bey melancholischen Menschen am stärksten wirket.“

Als „Grund dieser Schwermuth und Geistesträgheit“ erkannte Holsche die „sklavische Arbeit“, die viele Menschen zu verrichten hätten. Etwa nannte er die Saisonarbeit in den Niederlanden, wo sich vor allem junge Männer durch das Stechen von Torf ein notwendiges Zubrot verdienten. Ihre dortige Unterbringung muss, schenkt man Holsche Glauben, katastrophal gewesen sein; eher als Vieh schienen die Leute behandelt worden zu sein. Doch auch im Land selbst sehe die Situation der Einwohnerinnen und Einwohner nicht besser aus: „In ihren Häusern wird unaufhörlich gesponnen und der Zeitvertreib bestehet darinn, daß die Jungens nach den Spinnstuben gehen. Hier wird nicht allein Garn, sondern auch Liebesintriguen gesponnen, nicht auf eine feine Art, denn sie sind der Natur getreu, verachten das Gekünstelte und die meiste Zeit ist die eheliche Verbindung zweyer Personen, die nichts haben, als was sie am Leibe tragen, der Erfolg dieser Zusammenkünfte. Der Hang zum ehelichen Leben ist hier sehr groß, wenn ein Paar nur ein Bette und eine Kuh zusammen bringen können, tragen sie kein Bedenken, sich zu heirathen und eine Haushaltung anzufangen. Oft geschiehet dies, wenn der Junge noch in die Schule gehet, und denn muß das Mädchen warten, bis er losgesprochen ist.“

Holsche prangerte also gewisse Missstände im Zusammenleben an. Die tecklenburgische Bevölkerung besitze einige typische Charakterzüge, die es abzulegen gelte. Aber wie? Die Antwort des Beamten erscheint denkbar einfach. Anstatt sich lediglich beim gemeinsamen Arbeiten zu treffen, müssten häufiger gesellige Feste und Feierlichkeiten besucht werden: „Oeffentliche unschuldige Vergnügungen und Volksfeste nach gewissen Regeln eingerichtet und woran auch die vornehmere Personen Theil nehmen müßten, würden den Charakter und das sittliche Betragen des gemeinen Haufens ausbilden, denn dieser ist zum Nachahmen geneigt.“ Andererseits waren allzu stark ausschweifende Festivitäten der Obrigkeit ebenfalls ein Dorn im Auge. Mehrere Tage währende Hochzeitsfeiern oder die Aufrichtung eines Hauses seien zum Beispiel Anlässe, bei denen Bier und Branntwein in Strömen fließe und üppige Geschenke den Besitzer wechselten. Dabei konnte es mitunter turbulent zugehen, wie Holsche erzählt: „Das dicke Geblüt, wenn es durch Branntwein erhitzt ist und ins Kochen gebracht worden, veranlasset öftere Schlägereyen, außer dem Trunk aber höret man selten davon.“

Darüber hinaus führte der gut informierte Beamte einen weiteren Kritikpunkt an. Die eher in sich gekehrten Tecklenburgerinnen und Tecklenburger würden sich auch kirchlich von der Gesellschaft absondern – ihre schwere Gemütshaltung führe also zur Entstehung von Sekten, behauptete Holsche. Er geißelte derartige Entwicklungen als „Misgeburten“. Maßgeblich seien „Weibsleute die Hauptpersonen in diesen Sekten und geben den Ton an, reden von Durchbruch, Glauben und dergleichen mystischen Dingen, und verführen durch Scheinheiligkeit andere zur Schwermuth gestimmte Seelen.“

Trotz allem stellte Holsche den Tecklenburgerinnen und Tecklenburgern aber insgesamt ein gutes Zeugnis aus: „Man kann nicht sagen, daß es eine übel gesittete Nation sey, denn die Verbrechen, welche minder oder mehr vorfallen, haben sie mit andern Völkern gemein. Uebrigens lieben sie ihr Vaterland über alle Maaße, und kommen wieder zurück, sie mögen seyn, in welchem Welttheil sie wollen, wenn sie nicht anderwärts ein großes Glück machen oder vom Tode übereilet werden.“

 

Quelle: August Karl Holsche, Historisch-topographisch-statistische Beschreibung der Grafschaft Tecklenburg nebst einigen speciellen Landesverordnungen mit Anmerkungen, als ein Beytrag zur vollständigen Beschreibung Westphalens, Berlin/Frankfurt an der Oder 1788.