Kathrin Schulte
„Mehrere Beschwerden und Klagen, welche in dem verflossenen Semester gegen Studierende der hiesigen Akademie eingegangen sind, machen die schleunige Einrichtung eines akademischen Carcers im eigentlichen Sinne nothwendig“, schreibt der Rektor der Akademie Münster Anfang April 1834 an den Kurator. An einigen Universitäten, beispielsweise in Marburg oder Heidelberg, gab es solche Arrestzellen zu dieser Zeit bereits. Dort haben sie sich bis in die Gegenwart gehalten – inzwischen aber nicht mehr als Orte der Disziplinierung, sondern als touristische Sehenswürdigkeiten. In Münster hingegen lässt sich die Existenz eines Karzers lediglich durch Akten und einzelne Grundrisszeichnungen nachvollziehen. Mit der Existenz des Karzers ist aber ein weitaus größerer Themenkomplex verbunden, der, zumindest im Zusammenhang mit der Akademie und der Universität Münster, bislang wenig Beachtung gefunden hat: das akademische Gericht.
Die akademische Gerichtsbarkeit lässt sich erstmals im Mittelalter nachweisen, als verschiedene Macht-, Rechts- und Gerichtssphären in einem Staat bestanden – neben der Universität verfügten auch Städte, der Hof, das Land und die Kirche über eigene Gerichtsbarkeiten. Die Universität in Bologna war die erste, die eine akademische Gerichtsbarkeit einführte, ihr folgten weitere europäische und deutsche Universitäten. Letztere wurden von Landesherren gestiftet und durften sich eigene Statuten geben, in denen auch die Gerichtsbarkeit geregelt wurde. Dadurch sind allgemeine Aussagen über die akademische Gerichtsbarkeit auf deutschem Gebiet kaum möglich. Einige wenige Gemeinsamkeiten gab es jedoch: Nicht nur die Studierenden und Lehrenden der Universitäten unterlagen der akademischen Gerichtsbarkeit, sondern auch deren Angehörigen, die Bediensteten der Universität und Gewerbetreibende, die für die Universität arbeiteten. Für die Studierenden war die universitäre Gerichtsbarkeit auch nach Abschluss ihres Studiums zuständig, sofern sie nicht durch die Annahme einer Anstellung am Hofe beispielsweise in eine andere Gerichtsbarkeit „wechselten“. Nicht einheitlich geregelt war, wer an den Universitäten Recht sprach – das übernahmen teilweise die Rektoren, teils aber auch der Bischof.
Mit der Zeit entwickelte sich die akademische Gerichtsbarkeit, rechtlich hatten sich die akademischen Richter – im 19. Jahrhundert wurden in Preußen staatlich bestimmte Universitätsrichter eingesetzt – an geltendes Recht zu halten. Im Bereich der akademischen Disziplinargerichtsbarkeit unterlagen die Studenten zudem den jeweiligen universitären Bestimmungen ihrer Hochschule, die in den Universitätsstatuten festgehalten waren. So war es auch in Münster. Erste Regelungen für das akademische Gericht stammen aus dem Jahr 1833 und zählen die Vergehen auf, die durch das akademische Gericht geahndet wurden: „a. wörtliche Beleidigungen der Studenten unter sich; b. Thätligkeiten unter Studenten bei welchen Niemand erheblich verletzt worden. c. Duelle mit Studenten, in sofern dabei weder Tödtung noch Verstümmlung noch bedeutende Verwundung vorgefallen ist. d. Alle geringe [sic!] Vergehen der Studenten überhaupt, d. H. solche, denen das Gesetz nur ein vierwöchentliches Gefängniß oder eine noch geringere Strafe androhet.“ Auch die Strafen für die Vergehen finden sich in den Disziplinargesetzen: „Kraft dessen kann die akademische Obrigkeit die Studierenden, mit Verweisen vor dem Rektor privatim, öffentlichen Verweisen vor dem Senat, Karzerstrafe bis zu vier Wochen, Androhung des consilium abeundi [Verweis von der Universität] selbst und der Relegation [Verbot, je wieder zu studieren] bestrafen.“ Vergehen Studierender, die sich auch in den Akten des Universitätsarchivs widerspiegelt, sind beispielsweise Duelle. Seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts verbreiteten sie sich unter Adligen und adlige Studenten. Unter Duell wird der Zweikampf mit tödlichen Waffen gefasst, der aufgrund einer Beleidigung bzw. Ehrverletzung nach gegenseitiger Übereinkunft und den Konventionen entsprechenden oder verabredeten Regeln ausgefochten wird. Dieser unterscheidet sich von dem Rencontre, in dessen Rahmen Streitende ohne vorherige Absprache den Streit mit Waffen ausfochten und der geringer bestraft wurde. In Deutschland wurde etwa die Hälfte der mindestens 2000 Duelle, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts jährlich stattfanden, an Universitäten ausgetragen. Das akademische Standesdenken implizierte einen sehr wichtig genommenen Ehrbegriff. Mit Herausforderungen zum Duell reagierten die Studenten ebenso wie Militärs oder Adelige auf Ehrverletzungen. Um dieser Form der Selbstjustiz vorzubeugen, wurden im 1870/71 entsprechend dem auf Bundes- und Reichsebene eingeführten Strafgesetzbuch Duelle und Mensuren verboten und strafrechtlich verfolgt.
In den Unterlagen des akademischen Gerichts in Münster finden sich sieben Akten zu Duellen oder Zweikämpfen, außerdem zwei zu verbotenen Mensuren. Der erste Fall stammt aus dem Jahr 1879. Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass es weitere Duelle gab, diese aber im Geheimen stattfanden, nicht verfolgt oder vor dem akademischen Gericht verhandelt wurden. Letzteres liegt auch mit Blick auf die Disziplinarregeln nahe, da vor dem akademischen Gericht in Münster lediglich die Duelle verhandelt wurden, „in sofern dabei weder Tödtung noch Verstümmlung noch bedeutende Verwundung vorgefallen ist“. Alle anderen Auseinandersetzungen waren Fälle für die Strafjustiz. Diese Rechtsvielfalt findet sich auch in der Akte des Prozesses gegen den Studenten Carl Westerwick aus dem Jahr 1883 vor dem akademischen Gericht wieder.
Carl Westerwick wurde gemeinsam mit Friedrich Homann und August Frank wegen eines Zweikampfes respektive Kartelltragens vor dem königlichen Landgericht angeklagt. Außerdem fand ein Verfahren am Gericht der Akademie Münster statt. August Frank, wurde wegen Kartelltragens, also einer unterstützenden Rolle während des Duells, verurteilt. Er wird in der universitären Gerichtsakte nicht weiter erwähnt. Friedrich Homann wurde im Juli 1882 exmatrikuliert, weshalb auch sein Fall nicht vor dem akademischen Gericht verhandelt wurde. Daher findet sich nur der Fall Carl Westerwicks detaillierter in der Akte. Dieser äußerte sich wie folgt zum Tathergang: „Im Wintersemester 1881 hatte ich mir den früheren Studirenden, jetzigen Candidaten Friedrich Homann aus Dützen gegenüber einige abfällige Aeußerungen über die Bedeutung des Burschenbandes zu Schulden kommen lassen“, allerdings habe er diese Äußerungen aus einer „pessimistischen Auffassung der Verhältnisse“ heraus getätigt. „Homann machte mir ernstliche Vorwürfe über diese meine Aeußerungen und ließ sich zu Beleidigungen hinreißen, indem er mir Unehrlichkeit und Feigheit vorwarf.“ Die Aussagen Westerwicks deuten darauf hin, dass die Kontrahenten Mitglieder von Studentenverbindungen waren. In den weiteren Ausführungen Westerwicks heißt es: „[n]ach Äußerung des Convents bin ich als Veranlasser zu einer einfachen Forderung auf Schläge dem Homann gegenüber vorgegangen, welche dieser indessen ablehnte, mit dem Bemerken, daß er mir Satisfaktion weigere. Infolge Beschlusses des Ehrengerichts wurde aber die Weigerung des Homann, nicht für berechtigt, anerkannt, u. darauf habe ich mich veranlaßt gesehen, ihm eine Herausforderung auf Pistolen zugehen zu lassen, bemerke, jedoch, daß mein Kartellträger, der vormalige stud. an der hies. Akademie Aug. Franke Homann vorher zur Revocation aufgefordert hat, jedoch vergebens. Die näheren Bedingungen des Zweikampfes waren: auf 15 Schritte Distanz einmaliger Kugelwechsel, ohne Zielen.“ Das Duell habe dann einige Tage später, am 26. November 1881, in Hiltrup stattgefunden, mit Secundanten und einem anwesenden Arzt. „Nach meiner Absicht bei Abgabe des Schußes, wollte ich keine Tödtung, sondern nur eine Verletzung am linken Arm des Gegners herbeigeführt sehen.“ Verletzt wurde bei dem Schusswechsel keiner der beiden Duellanten.
Das akademische Gericht sanktionierte Carl Westerwick „wegen Herausforderung zum Zweikampf und wegen Zweikampfs mit der Strafe der Androhung der Entfernung von der Akademie (Unterschrift des Consilium abeundi)“. Zudem hatte er die Kosten des Verfahrens zu tragen, ihm wurde allerdings die bereits abgesessene Woche Karzerhaft angerechnet.
Neben dem akademischen Gericht musste Westerwick sich aber auch vor dem königlichen Landgericht verantworten. Dort gibt er zu Protokoll, dass August Frank, der Kartellträger, sein Möglichstes getan habe, um zu vermitteln und das Duell zu verhindern, er sei aber erfolglos geblieben. Zudem betonte nicht nur Carl Westerwick, er habe absichtlich auf den Arm seines Gegners gezielt, auch Friedrich Homann sagte aus, dass er „die Pistole nicht, auf ihn gerichtet, sondern den Schuß in die Luft abgefeuert habe“, was das Gericht allerdings als unglaubwürdig bewertet. Über das Strafmaß urteilte das Landgericht folgendermaßen: „Nach Lage der Sache fand der Gerichtshof keine Veranlassung, bei Homann und Westerwick über das geringste gesetzliche Strafmaß hinaufzugehen, weshalb gegen einen Jeden auf 3 Monate Festung erkannt wurde. Der von Frank begangenen strafbaren Handlung erschien eine einwöchentliche Festungshaft angemessen, welche, wie geschehen, gegen denselben ausgesprochen wurde.“
Dieser Fall zeigt zahlreiche Facetten des studentischen Lebens in Münster, zunächst die Rolle der Verbindungen in entsprechenden Duellen – diese legte die Rahmenbedingungen und die Form des Duells fest. Auch die Bedeutung des Ehrbegriffes zeigt sich an diesem Beispiel: Eine Meinungsverschiedenheit und einige verbale Beleidigungen genügten, um Jemanden zu einem potentiell tödlichen Duell herauszufordern. Auch das Nebeneinander beider Gerichtsbarkeiten ist bemerkenswert: Zwar wurde Carl Westerwick bereits vor einem Strafgericht, dem königlichen Landgericht, zu drei Monaten Festungshaft verurteilt, musste sich aber trotzdem noch einem Prozess vor dem akademischen Gericht stellen.
Dieses Duell ist bei Weitem nicht der einzige Fall, der vor dem Gericht der Akademie Münster verhandelt wurde, so gibt es noch die Fälle von Studenten, die nachts Laternen auslöschten, Nachtwächter bestachen oder sich Schülerinnen gegenüber übergriffig zeigten. Und auch der Karzer und seine Nutzung lohnen näherer Betrachtung. All dies erwartet Sie in der bald erscheinenden, fünften Ausgabe des Magazins Graugold!
Literatur:
Rudolph, Susanne/Kern, Bernd-Rüdiger: Duelle vor Gericht. Das Universitätsgerichtswesen im Leipzig des 19. Jahrhunderts.
Brüdermann, Stefan: Göttinger Studenten und akademische Gerichtsbarkeit im 18. Jahrhundert. Göttingen 1990, S. 36 – 37.
Herbert, Lukas Ruprecht: Die akademische Gerichtsbarkeit der Universität Heidelberg. Rechtsprechung, Statuten und Gerichtsorganisation von der Gründung der Universität 1386 bis zum Ende der eigenständigen Gerichtsbarkeit 1867. Heidelberg 2018.
Quellen:
Universitätsarchiv Münster, Bestand 3, Nr. 7: Disziplinar-Gesetze und Statuten für die Königl. Preuß. Akademie zu Münster.
Universitätsarchiv Münster, Bestand 3, Nr. 624: Untersuchung wider stud. Carl Westerick wegen Zweikampfes auf Pistolen