„Ein ziemlich genaues Spiegelbild“

01.10.2019

Bereits auf dem Titelblatt wird der beträchtliche Umfang an Informationen angekündigt, der im Niekammerschen Adressbuch bereitgestellt wird.

Zum Nachdruck der beiden raren Landwirtschaftlichen Güter-Adressbücher für Lippe-Detmold, Schaumburg-Lippe und Waldeck-Pyrmont (1921) und Westfalen (1931)

Gisbert Strotdrees

Wer liest schon ein Adressbuch? Noch dazu eines, das bald hundert Jahre alt ist? Das mag sich denken, wer noch nie den Namen „Niekammer“ gehört hat und nun zum ersten Mal den dicken, gut 700 Seiten umfassenden Nachdruck in Händen hält.

Der Nachdruck, soeben erschienen, enthält gleich zwei historische Adressbücher. Das eine für die einstigen Fürstentümer Lippe-Detmold, Schaumburg-Lippe und Waldeck-Pyrmont stammt aus dem Jahr 1921, das andere für die damalige preußische Provinz Westfalen ist zehn Jahre jünger. Beide Ausgaben verzeichnen für die genannten Territorien sämtliche größeren landwirtschaftlichen Betriebe, geordnet nach Kreisen, Orten und Bauerschaften. Sie nennen deren Eigentümer, Verwalter oder Pächter, ferner den steuerlichen Einheitswert der Betriebe, die Flächenausstattung, die Art der Bodennutzung sowie den Bestand an Pferden, Rindvieh, Schafen und Schweinen. Dokumentiert sind überdies die Nebengewerbe auf den Höfen wie etwa Kornbrennereien, Mühlen oder Ziegeleien sowie die technische Ausstattung, etwa den Besitz von Motoren, Turbinen oder Traktoren.

Mit diesem Datenmaterial lag seinerzeit ein Nachschlagewerk vor, dass sich an die Landwirte und ihre Familien richtete, ferner an Landhandel und Banken, an Gewerbe und Industrie. Die Nutzer des Adressbuches erfuhren in den Tabellen mehr über Nachbarn, Kunden, Lieferanten, Kreditnehmer, Marktteilnehmer oder Verhandlungskontrahenten – und zogen den „Niekammer“ nicht zuletzt auch zu Rate, um sich über mögliche künftige Schwiegertöchter und -söhne und deren familiär-agrarischen Hintergrund zu informieren.

Zwei Buchraritäten ersten Ranges

Die Daten von damals sind heute längst überholt. Dennoch haben beide Adressbücher ihren Wert: zum einen für die heutigen Hofbesitzer und deren Familien, zum anderen für die historisch-landeskundliche Forschung. Ihr steht mit dem „Niekammer“ eine reich sprudelnde Datenquelle zur ländlichen Sozial-, Wirtschafts- und Siedlungsgeschichte im 20. Jahrhundert zur Verfügung. Der Band stellt auch eine Fundgrube für alle dar, die die Sprachlandschaft der Flur-, Bauerschafts- und Familiennamen erkunden und sich für deren westfälisch-nordwestdeutsche Besonderheiten interessieren. Sie haben den Herausgeber des Westfalenbandes 1931, wie er im Vorwort eindrücklich schildert, offenbar mehrfach zur Verzweiflung getrieben.

Die Pächter und Verwalter einzelner Güter werden ebenso benannt wie die Entfernung der Besitzungen von der nächsten Eisenbahn- resp. Telegrafenstation.

Das Tabellenwerk ist trotz seiner Informationstiefe bis heute nicht systematisch ausgewertet. Dazu hat sicherlich beigetragen, dass die Originale beider Bände eine Rarität ersten Ranges darstellen. In öffentlichen Bibliotheken und Archiven ist der Band zu Westfalen nur schwer, der Band zu Lippe, Schaumburg-Lippe und Waldeck-Pyrmont fast gar nicht zu finden.

Im Antiquariatshandel tauchen die Originalausgaben nur denkbar selten und zu exorbitanten Preisen auf. Selbst der Nachdruck des „Niekammer“ für Westfalen, den der Landwirtschaftsverlag 2003 erstmals vorgelegt hat, ist seit langem vergriffen. So gab und gibt es viele Gründe für die Neuauflage des Reprints, erweitert nun um die wirklich besondere Rarität des Adressbuches für Lippe-Detmold, Schaumburg-Lippe und Waldeck-Pyrmont.

Zur Tradition agrarischer Adressbücher

Regionale Verzeichnisse mit den Daten zu einzelnen landwirtschaftlichen Gütern und Höfen wurden bereits im 19. Jahrhundert erarbeitet und publiziert. Keine Reihe aber war so erfolgreich wie die aus dem ursprünglich in Stettin ansässigen Verlag „Paul Niekammer“. 1903 legte er für Pommern den ersten Band seiner Reihe „Niekammer‘s Landwirtschaftliche Güter-Adreßbücher“ vor.

Die Pächter und Verwalter einzelner Güter werden ebenso benannt wie die Entfernung der Besitzungen von der nächsten Eisenbahn- resp. Telegrafenstation.

– Als Band X erschien erstmals 1909 das Verzeichnis für die preußische Provinz Westfalen. Es wurde 1921 und ein weiteres Mal 1931 neu aufgelegt.

­– Als Band XVII erschien 1921 das Adressbuch für die Freistaaten Lippe-Detmold, Schaumburg-Lippe und Waldeck-Pyrmont zum ersten und einzigen Mal.

Über die Jahre erwarb sich die Reihe den Ruf, verlässliche, solide geprüfte Daten bereitzustellen. Adressenverzeichnisse dieser Art gebe es „an sich genug“, befand das Preußische Statistische Landesamt 1934, um mit einem besonderen Lob fortzufahren: Die Niekammer-Reihe biete Material, auf das sich ein Statistiker „unbedingt verlassen“ könne. Der Herausgeber der Adressbücher habe „sich offenbar alle Mühe gegeben, seine Unterlagen immer wieder zu ergänzen und zu verbessern und das ganze Werk auf dem neuesten Stand zu halten“.

Zur Wahl der Auflage für den Nachdruck

Für den Nachdruck wurde die jüngste Ausgabe des Westfalen-Bandes von 1931 ausgewählt, weil sie im Vergleich zu den beiden Vorgänger-Auflagen, die größte Zahl an landwirtschaftlichen Höfen und Gütern, Rittergütern und Domänen verzeichnet. Laut preußischer Statistik gab es damals in der Provinz Westfalen rund 19.900 Betriebe über 20 ha Größe. Das Adressbuch umfasst nach Angaben des Verlages rund 27.000 Betriebe, enthält also, entgegen dem Titel-Eintrag, auch etwa 7000 mit weniger als 20 ha.

Auch die Größe der Höfe sowie der Viehbestand wurden aufgeführt, hier für den Kreis Lippstadt.

Für den Nachdruck der jüngsten Auflage spricht auch, dass gerade sie die westfälische Landwirtschaft im Übergang dokumentiert: kurz vor dem Umbruch der NS-Agrarpolitik, vor allem aber vor dem Beginn der beschleunigten Modernisierung und des Strukturwandels auf dem Land seit den 1950er Jahren. Der Auftakt dieser Modernisierung – die beginnende Mechanisierung, Elektrifizierung und auch die Motorisierung auf den Höfen – ist in den Einträgen bereits deutlich zu erkennen. Kürzel oder Signets markieren, wenn um 1930 ein Betrieb mit einer Wasserturbine Elektrizität erzeugte, wenn er über Dampfkraft, Elektromotoren oder gar über einen der wenigen Traktoren verfügte, die damals in der Landwirtschaft Westfalens eingesetzt wurden.

Für Lippe-Detmold, Schaumburg-Lippe und Waldeck-Pyrmont gibt es einzig das Adressbuch aus dem Jahr 1921. Insofern stellte sich die Frage der Auswahl nicht.

Herkunft und Verlässlichkeit der Daten

Die Adressbücher stützen sich im Wesentlichen auf zeitgenössische amtliche Quellen etwa der Landwirtschaftskammer für die Provinz Westfalen, der Lippischen Berufsgenossenschaft oder der Waldeck’schen Landwirtschaftskammer. Ergänzt und korrigiert wurde das Datenmaterial jeweils durch die Eigentümer, Pächter oder Verwalter der jeweiligen Betriebe.

Bereits 1921 hatte die „Landwirtschaftliche Zeitung für Westfalen und Lippe“, zum Rechercheverfahren und zur Qualität des Zahlenmaterials ausgeführt:

Auch die Größe der Höfe sowie der Viehbestand wurden aufgeführt, hier für den Kreis Lippstadt.

„Die Landwirtschaftskammer zu Münster verschickte vor einigen Monaten Fragebogen an die Inhaber der mittleren und größeren landwirtschaftlichen Betriebe unserer Provinz mit der Bitte, nähere Bezeichnungen über Namen des Gehöftes, Flächenverteilung, Viehstand, Besitzer, industrielle Betriebe sowie kommunalpolitische Zugehörigkeit, Post und Eisenbahnstation usw. zu machen. Die Antworten sind zwar nicht, wie zu hoffen gewesen wäre, ausnahmslos, aber doch so reichlich erfolgt, dass das Buch ein ziemlich genaues Spiegelbild unserer heimischen Landwirtschaft darstellt. Es wird für jeden unserer Landwirte außerordentlich interessant sein, diese und jene Einzelheit aus dem Adreßbuch zu entnehmen, wobei ausdrücklich hervorgeben sei, daß das Wort ,Adreßbuch‘ den außerordentlich vielseitigen Inhalt des umfangreichen Werkes nicht vollständig wiedergeben kann. Das Buch ist gewissermaßen ein Denkmal des wichtigsten Berufszweiges unserer Provinz, welches noch für unsere Kinder und Kindeskinder von größtem Interesse sein wird.“  

Unter dem Strich liegt mit dem doppelten Nachdruck eine Quelle vor, die mehr ist als „nur“ ein altes Adressbuch. Mit ihm wird ein Dokument zugänglich, das der Orts- und Familienforschung, der Regionalgeschichte und der Erforschung der Landwirtschaft und der ländlichen Siedlungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts dienen kann.