„Flandernrundfahrt“ 1978 (ohne Fahrrad)

07.11.2025 Niklas Regenbrecht

Timo Luks

Kürzlich stieß ich bei der Suche nach möglichen Themen für einen Blogbeitrag auf einen Archivbestand mit dem Titel „Flandernrundfahrt“. Als Radsportfan war sofort meine Aufmerksamkeit gefesselt, und ich dachte an Kopfsteinpflaster, an kalt-regnerisches Aprilwetter, an Oude Kwaremont, Paterberg und Koppenberg. In dem fraglichen Bestand geht es um nichts davon.

Die Materialien zur „Flandernrundfahrt“ gehören zum Nachlass von Gerhard Schmidt, der sich seit 1996 im Archiv für Alltagskultur in Westfalen befindet (https://www.alltagskultur.lwl.org/de/blog/nachlass-schmidt/). Der Bestand umfasst persönliche Informationen, insbesondere aber Reisedokumente (Broschüren, Prospekte, Rechnungen, Karten, Tourismusführer, Hotel- und Reisebürounterlagen). Hinzu kommen Notizen zu einzelnen Reisen. Schmidt war gelernter Maschinenschlosser, später aber als mittlerer Verwaltungsbeamter in Aachen beschäftigt. Viele der Reisen, die er zwischen den 1950er und 1980er Jahren zusammen mit seiner Ehefrau Maria Theresia unternahm, führten ihn durch die Bundesrepublik, aber auch über deren Grenzen hinaus.

Wie andere Angehörige ihrer Generation entdeckten die Schmidts beispielsweise Italien als Reiseland. Der Bestand zur Italienreise des Jahres 1959 umfasst eine Art Reisetagebuch, ein Prospekt des Reisebüros, einen Stadtplan mit von Hand eingekreisten Sehenswürdigkeiten und einen umfangreichen Romreiseführer. Ebenso findet sich im Archiv eine Karte mit markierter Reiseroute (dazu: https://www.alltagskultur.lwl.org/de/blog/was-von-einer-italienreise-im-jahr-1959-uebrigblieb/). Reise und Aufenthalt wurden detailliert dokumentiert, allerdings ohne persönliche Eindrücke festzuhalten.

„3 Tage Flandern“ – Handreichung des Reisebüros Schornstein

Der Bestand zur „Flandernrundfahrt“ gestaltet sich ähnlich. Auch hier konzentrieren sich die Notizen auf Reise- und Aufenthaltsdaten, Fahrt- und Übernachtungskosten oder kurze Bemerkungen zum Wetter. Wie bei der Italienreise scheint sich Ehepaar Schmidt nicht vorab mit Infomaterial versorgt zu haben. Vom Reisebüro selbst stammt nur ein Infoblatt mit den wichtigsten Terminen und der Reiseroute, handelte es sich in diesem Fall doch um eine organisierte Bus- und keine individuelle Autoreise.

Die umfangreicheren Broschüren wurden vor Ort gesammelt, wahrscheinlich bei der Ankunft im Hotel: ein belgischer Stadtplan für Leuven, deutschsprachige Materialien zu Brügge und Brüssel, beide herausgegeben vom städtischen Verkehrsamt, Informationen zu Antwerpen und Gent, die die dortigen Tourismusbüros verantworteten. In keiner Broschüre und auf keinem Plan finden sich handschriftliche Markierungen oder Notizen.

Die Preise für „fremdes Geld“

Zwei Punkte verdienen es, besonders hervorgehoben zu werden. Beide erinnern daran, dass Grenzübertritte auch innerhalb Europas in den 1970er Jahren noch mit Herausforderungen verbunden waren. Einerseits betraf das das Geld. Im Bestand findet sich ein kleines Faltkärtchen der Volks- und Raiffeisenbank, auf dem Wechselkurse in beide Richtungen für verschiedene Länder tabellarisch gelistet sind. Kurz vor der Reise hatte das Ehepaar den aktuellen Kurs handschriftlich eingetragen.

Eine Quittung für gekauftes Geld

Zudem bewahrten sie die Quittung ihrer Sparkasse auf, die für den 22.8.1978 den Ankauf von 1900 belgischen Francs für 120,08 DM bescheinigt.

Andererseits stellten sich beim Grenzübertritt Herausforderungen hinsichtlich der (Uhr-)Zeit. Nun liegen Belgien und Deutschland nicht in unterschiedlichen Zeitzonen, Synchronisierungsprobleme existierten im August 1978 dennoch. Das angesprochene Infoblatt des Reisebüros schrieb:

„Beachten Sie bitte, daß in Belgien Sommerzeit ist und Sie Ihre Uhren beim Grenzübertritt um eine Stunde vorstellen bzw. bei der Rückkehr wieder nachstellen. Die obigen Zeiten sind stets die Ortszeiten.“

Der Historiker David Kuchenbuch hat sich der wechselvollen Geschichte der Sommerzeit gewidmet. Diese Geschichte ist mit Blick auf die Flandernreise eines deutschen Ehepaars im Jahr 1978 durchaus interessant. Als das deutsche Kaiserreich 1916 die Einführung einer Sommerzeit beschloss, galt der Moment als günstig, hatte der Krieg aus Sicht der Befürworter der Sommerzeit doch „viele internationale Verpflichtungen obsolet gemacht und grenzüberschreitende Zugverbindungen gekappt.“ (S. 18). Trotz des Kriegs folgten im Sommer 1916 nahezu alle europäischen Staaten. 1919 wurde die Sommerzeit in Deutschland dann wieder abgeschafft. Im Kriegsjahr 1940 kehrte sie zurück und blieb diesmal bis 1949 erhalten. Unter dem Eindruck der Ölpreiskrise 1973/74 erinnerten sich verschiedene Akteure an das Konzept und brachten es erneut als mögliche Energiesparmaßnahme ins Gespräch. „Die Bundesregierung, die 1973 mit dem Energiesicherungsgesetz der Reduktion des Ölverbrauchs den Weg gebahnt hatte, reagierte, was die Sommerzeit anbelangte, aber auf die Initiativen anderer europäischer Staaten.“ (S. 24) Mit der Einführung der Sommerzeit in verschiedenen europäischen Ländern stellte sich das Problem unterschiedlicher Zeitzonen in einer Weise, die auch die Europäische Gemeinschaft auf den Plan rief. Die Bundesregierung wartete freilich ab. Erst als klar war, dass es auch in der DDR eine Sommerzeit geben würde, kam es zur Wiedereinführung im Westen. Das war 1980. „Die jüngere Geschichte der Sommerzeit“, so resümiert David Kuchenbuch, „verdeutlicht vor allem die gewachsene Bedeutung innereuropäischer Interdependenzen.“ (S. 4) Ehepaar Schmidt reiste nun genau in jenem Zeitfenster nach Belgien, in dem es keine einheitliche europäische Zeit gab – und Reisebüros mit Handzetteln dafür sorgen mussten, dass niemand den Bus verpasst.

Die 62. Austragung der Flandernrundfahrt auf dem Rennrad hatte am 9. April 1978 übrigens der von 1992 bis 2005 als sportlicher Leiter des Teams Telekom tätige und kürzlich verstorbene Walter Godefroot vom belgischen Team IJsboerke-Gios gewonnen.

 

Literatur:

Hoffmann, Lena: Was von einer Italienreise im Jahr 1959 übrigblieb, Blog Alltagskultur, 22.08.2025, URL: https://www.alltagskultur.lwl.org/de/blog/was-von-einer-italienreise-im-jahr-1959-uebrigblieb/

Kuchenbuch, David: Ein Atavismus der Hochmoderne? Die Sommerzeit als „social engineering“ (1907–1980), in: Historische Zeitschrift 307, 2018, S. 1-41.

Personenbestand Schmidt, Gerhard, Archiv für Alltagskultur in Westfalen, K03119.

Ullrich, Sophie: Archivbestände vorgestellt: Reisen früher und heute – Einblicke in den Nachlass Schmidt, Blog Alltagskultur, 15.09.2020, URL: https://www.alltagskultur.lwl.org/de/blog/nachlass-schmidt/

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