Früher war alles besser?! Bauernproteste gegen Dienstpflichten in Levern-Sundern

11.12.2020 Dorothee Jahnke

Stift Levern: Die Sunderaner Bauern waren einst dem Stift Levern eigenbehörig gewesen. Die Stiftskirche liegt in erhöhter Lage. Die umliegenden Stiftskurien prägen bis heute den Ort. Foto: Sebastian Schröder.

Sebastian Schröder

Es mutet wie ein typischer Stammtisch an, als sich am 3. August 1843 einige Eingesessene der Bauerschaft Sundern (heute Teil der Gemeinde Stemwede im Norden des Kreises Minden-Lübbecke) in der Rahdener Gastwirtschaft Pettenpohl trafen. Früher sei alles besser gewesen, schimpften und zeterten die Bauern in Richtung des preußischen Staates.

Aber die wütenden Landwirte trafen sich im August 1843 keinesfalls zu einer gemütlichen Stammtischrunde. Das besagte Gasthaus fungierte vielmehr als Ort einer Verhandlung zwischen den Sunderanern und den Beamten der Mindener Regierung, zu der der Herforder Gerichtsassessor Stohlmann eingeladen hatte. Das Aufeinandertreffen der streitenden Parteien hatte eine lange Vorgeschichte. Einst waren die Sunderaner Bauern dem nahegelegenen Stift Levern eigenbehörig gewesen. Sie verrichteten Hand- und Spanndienste, waren außerdem zu weiteren Leistungen verpflichtet. Mit der Säkularisation wurde das Stift aufgelöst. Der gesamte Besitz fiel dem Staat zu. Der preußische König wurde Rechtsnachfolger der ehemals geistlichen Institution und deren Vermögen. Ihm standen somit die vormals den Stiftsdamen zu liefernden Verpflichtungen der Eigenbehörigen zu. Denn die Eigenbehörigkeit bestand nach wie vor. Gleichwohl hatte der Monarch kein Interesse daran, dass ihm seine neuen Hörigen Hühner und Getreide in natura nach Berlin lieferten. Zudem sah er von weiteren Naturalabgaben ab. Stattdessen wollte er bare Münze.

Genau dagegen protestierten die Landwirte der Bauerschaft Sundern. Die Umrechnung von dinglichen Pflichten in eine Geldzahlung sei deutlich zu hoch ausgefallen. Ferner sei ohnehin problematisch, Natural- mit Geldleistungen aufzuwiegen. Der Fiskus müsse bedenken, dass die einst geleisteten Dienste abhängig von der Jahreszeit gewesen seien. Früher hätten sie nur „von Sonnen-Aufgang bis Sonnen-Untergang gedient“, berichteten die Bauern. Im Winter sei dementsprechend weniger gearbeitet worden. Folglich könne der König winters wie sommers nicht den gleichen Tarif fordern. Außerdem sei ihre Anreise bereits als Arbeitszeit bewertet worden. Des Weiteren hätten ihnen die Stiftsdamen eine zweistündige Mittagspause zwischen 12 und 14 Uhr eingeräumt. Sehnsüchtig verklärten die Bauern an die gute alte Zeit: „Solche Diensttage seien für Menschen und Vieh Freudentage gewesen, und sie wünschten nichts mehr, als daß solche Zeiten zurückkehren möchten.“ Denn den Pferden sei Stallung und Futter gewährt worden; sie selbst, ihre Knechte und Pferdejungen hätten Buchweizen, Grütze und Brot erhalten, zusätzlich ein Mittagessen – „bestehend aus zweierlei Gemüse und zweierlei Fleisch“. Sogar bei den sogenannten langen Ausfuhren, also Fuhrdiensten, die über drei Meilen Wegesstrecke betrugen, „hätten sie und die Pferde ein herrliches Leben und eine herrliche Bewirthung gehabt.“ Hinzu komme, dass niemals ein Gespann überladen worden sei.

Die nunmehr geforderte Geldzahlung erweise sich daher als viel zu hoch angesetzt; eine adäquate Entschädigung könne nicht erzielt werden. Folglich würde der Fiskus auf Kosten der Sunderaner erheblich profitieren. Die Bauern befürchteten ihren Ruin und klagten ihr Leid: Der finanzielle Druck sorge dafür, dass sie „sich übermenschlich anstrengen“ sowie Mensch und Tier nur „ganz nothdürftige, magere Kost“ erhalten würden. Unter diesen Umständen dienten sie lieber wieder wie zu Großelterns Zeiten dienen, als die Verpflichtungen in natura geleistet wurden.

Eine gütliche Einigung mit dem preußischen Staat schlossen sie kategorisch aus. Abhilfe könne ihrer Meinung nach eine Sachverständigenkommission schaffen, die der Kolon Langelahn aus Destel leiten sollte. Diese habe den exakten finanziellen Gegenwert der früher gebräuchlichen Hand- und Spanndienste zu bestimmen, dabei alle Einwände und Einschränkungen zu berücksichtigen.

Der Vertreter des Fiskus beziehungsweise der Mindener Regierungsbehörde, der Domänenrentmeister Weller, bestritt zwar grundsätzlich die Aussagen der Sunderaner, war aber mit der Einsetzung einer Kommission trotzdem einverstanden. Seinerseits ernannte er den Kolon Hustädt aus Haldem zum Obmann. Am 27. September 1843 sollten die beauftragten Kommissare ihre Tätigkeit aufnehmen.

Das Ende des Verfahrens verzögerte sich; ein Urteil rückte in weite Ferne. Der Ausgang des Konflikts soll an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. Denn bereits das Protokoll der Zusammenkunft vom 3. August 1843 zeugt eindrücklich von den Auswirkungen der „Agrarreformen“. Fundamentale Strukturen und Gewohnheitsrechte der ländlichen Gesellschaft und des bäuerlichen Wirtschaftens galten nicht mehr. Solche gravierenden Umbrüche mussten zwangsläufig irritierend auf die eingesessenen Bauern wirken. Gleichwohl darf natürlich eines nicht vergessen werden: Auch bei den Stiftsdamen hatten sich dieselben Landbewohner und deren Vorfahren bereits über zu hohe Abgaben beschwert – früher war eben doch manches anders, aber noch lange nicht alles besser. Die Sunderaner ließen diesen Aspekt geflissentlich unter den Tisch fallen. Schließlich sollte der Rückgriff auf die Vergangenheit dazu dienen, die eigenen Zahlungsverpflichtungen möglichst gering zu halten. Das „Stammtischgebaren“ erweist sich somit als eine ganz bewusste Strategie in der Auseinandersetzung mit den preußischen Behörden.

  • Zu den Handdienstpflichten gehörte unter anderem das Unkrautjäten. Foto: Dr. Herwig Happe. Archiv für Alltagskultur in Westfalen, 2015.00397.