Hermann, der Postdirektor? Heinrich von Kleist, die Franzosen und die Post in Westfalen

17.06.2025 Niklas Regenbrecht

Mit einer Postkutsche gegen Napoleon? Heinrich von Kleist könnte so etwas im Sinn gehabt haben... (Postkutsche, aufgenommen in Feudingen, 1910, Archiv für Alltagskultur in Westfalen, 0000.46706.)

Timo Luks

So manch kleine Wissenschaftskontroverse mutet rückblickend seltsam an. Zwar eignet sich nahezu jedes historische Thema für gegensätzliche Einschätzungen, nicht in jedem Fall entfaltet das aber eine langfristige Wirkung. Selbst unter Kleist-Forscher*innen – und von ihnen dürfte es einige geben – finden sich wahrscheinlich nicht allzu viele, die wissen, dass es Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre zu einem Schlagabtausch über die Frage kam, ob Heinrich von Kleist (1777–1811) sich im Sommer 1808 um Verwendung im französischen Postdienst in Westfalen beworben hat – oder eben nicht.

Der Posthistoriker Wilhelm Beck veröffentlichte 1958 im Archiv für deutsche Postgeschichte einen angesichts des Anlasses und Themas beachtlich umfangreichen Aufsatz unter dem Titel Heinrich von Kleists Bewerbung um französische Postdienste in Westfalen. Beck hatte in den Briefbüchern der Generalpostdirektion für das Großherzogtum Berg eine abschriftliche Urkunde entdeckt, die seiner Einschätzung nach erkennen lasse, dass „sich Kleist im Sommer 1808 bei der Generalpostdirektion in Düsseldorf um Verwendung im französischen Postdienst beworben hat, in erster Linie um die Stelle als Postdirektor in Lünen, als Nachfolger des verstorbenen Postdirektors Schöppenberg.“ Das erhaltene Schriftstück dokumentiert die Ablehnung eines entsprechenden Gesuchs, das allem Anschein nach mündlich vorgetragen worden war. Mündliche Anstellungsgesuche waren in der Bewerbungskultur des frühen 19. Jahrhunderts bei ganz unterschiedlichen Positionen durchaus üblich und wurden erst langsam von schriftlichen Bewerbungen verdrängt.

Wilhelm Beck glaubte nun, mit dieser Entdeckung eine Lücke im Lebenslauf des Dichters erhellen zu können, schließlich herrschten, das betonte er, in der Forschung Unklarheiten über Heinrich von Kleists Aufenthaltsort im fraglichen Zeitraum (Ende Juli und Anfang August 1808). Kleist war 1807 aus dem preußischen Verwaltungsdienst ausgeschieden und lebte nun in Dresden. Seine dauerhaften Geldsorgen sind gut dokumentiert: die ständigen Bitten um Geld in alle Richtungen, die seinen Briefwechsel durchziehen; die spärlicher als gedacht fließenden Einnahmen aus seinen Theaterstücken; die erheblichen Schulden, die ein gescheitertes Zeitschriften- und Verlagsprojekt mit sich brachten. Daher ist es plausibel, mit Wilhelm Beck davon auszugehen, dass sich Kleist wie viele seiner Weggefährten um ein einigermaßen auskömmliches Dienstverhältnis bemühte.

Aber französische Postdienste in Westfalen, als Postdirektor in Lünen? Im überlieferten Schriftstück ist lediglich die Rede von einem Premier-Leutnant Kleist. Die Aufgabe des Posthistorikers bestand 1958 darin, diesen als den Dichter Heinrich von Kleist zu identifizieren. Wilhelm Beck tat dies, indem er den zum fraglichen Zeitpunkt bereits verstorbenen jüngeren Bruder des Dichters wie auch einen Vetter, der den Rang eines Majors bekleidete, als Empfänger des Absageschreibens ausschloss. Den Umstand, dass das Schreiben an einen Kleist in Hamm adressiert war, deutete Beck als Beleg dafür, dass die Bewerbung heimlich – wohl über eine Deckadresse eines Bekannten – erfolgt sei, um einerseits die französischen Behörden im Unklaren über die Herkunft des Bewerbers zu lassen und sich andererseits nicht die letzte Gunst bei Hofe in Berlin und Dresden zu verscherzen.

Wilhelm Beck wies auf die Schwierigkeiten und Strapazen hin, die mit einer möglichen Bewerbungsreise über hunderte Kilometer und einer berufsfremden Bewerbung verbunden waren. Beides sei nicht ohne Hilfe denkbar. „Nur Berater vor Ort und Stelle konnten die Aussichten einer Bewerbung einigermaßen ermessen. Alles deutet darauf hin, daß Kleist sie in Hamm gefunden hat, der Hauptstadt der preußischen Grafschaft Mark. […] In Hamm konnte man sich über alle Vorkommnisse in dem als Verwendungsort für Kleist vorgesehenen und wenig über 25 Kilometer entfernten Lünen ohne sonderliche Mühe unterrichtet halten, zumal die Orte eine tägliche Postverbindung hatten.“ Beck nahm an, dass der Bewerber Kleist von – nicht zuletzt bei der für 1809 von Napoleon befohlenen Neugestaltung der Post – anstehenden Neubesetzungen im Allgemeinen oder dem Kränkeln dieses oder jenen Stelleninhabers im Besonderen zumindest gerüchteweise gehört hatte bzw. von Bekannten gezielt informiert worden war.

Ob nun Heinrich von Kleist der fragliche Bewerber war oder nicht: Die Bewerbungskultur des frühen 19. Jahrhunderts funktionierte oft tatsächlich nach genau diesem Muster. Jede Mutmaßung über behördliche Veränderungen, die angesichts der ständigen territorialen Neuordnungen und Verwaltungsreformen in der napoleonischen und nachnapoleonischen Zeit in allen deutschen Länder permanent anstanden, zog eine Flut von Bewerbungen nach sich. Gleichzeitig zirkulierten ständig Informationen und Gerüchte über mögliche Anstellungen. So ist beispielsweise auch der Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm aus dieser Zeit voll davon. Auch der Umstand, dass der Bewerber Kleist über keine erkennbare fachliche Qualifikation verfügte und wohl mit erfahrenen Postbeamten um die Stelle konkurrieren musste, fügt sich in die damalige Praxis, waren geforderte Qualifikationen doch oft noch wenig standardisiert.

Weniger eindeutig lässt sich die Frage beantworten, warum und mit welchen Argumenten sich Heinrich von Kleist als Postdirektor in Lünen hätte bewerben sollen. Wilhelm Beck fand eine Antwort auf beide Fragen in Kleists 1808 verfasstem Drama Die Hermannsschlacht. Einerseits entdeckte der Posthistoriker darin eine Passage, die darauf hindeute, dass Kleist, „um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und seine Anstellung zu sichern, auch Vorschläge für eine, wie er glaubte, wesentlich verbesserte Beförderung der Briefpost vorgetragen haben“ dürfte: die kurze Erwähnung der Technik der Germanen, Briefe zu „verschießen“. Daraus wurde, so Beck, zwei Jahre später der Entwurf für eine „Bombenpost“, den Kleist im Berliner Abendblatt veröffentlichte. Für den Posthistoriker lag es nahe, dass der Dichter diesen Entwurf bereits in der Tasche hatte, als er sich um den Posten des Postdirektors in Lünen bewarb.

Die zeitgleich zur vermuteten Bewerbung dokumentierte Arbeit an der Hermannsschlacht gibt laut Wilhelm Beck auch Aufschluss über das Warum der Bewerbung Kleists im August 1808: Kleist konnte „Nachricht haben, daß sich das Eindringen der ‚Römer‘ in Westfalen wiederholte: Die Franzosen ergriffen im Mai 1808 Besitz von der alten preußischen Grafschaft Mark (mit Städten wie Hamm, Lünen, Unna, Lippstadt, Bochum). […] Für den Patrioten Kleist mußte es naheliegen, die Parallele zu dem Geschehen vor 1800 Jahren weiterzuführen und die fremden Eindringlinge auch diesmal durch einen ‚Hermann‘ vernichten zu lassen.“ Kleist habe wohl geglaubt, er selbst könne diese Rolle übernehmen. Die Bewerbung als Postdirektor wäre sein Versuch, wie Arminius/Hermann ein „äußeres Bündnis mit dem Feind“ einzugehen, um den Widerstand in der Grafschaft Mark zu unterstützen – durch eine strategisch günstige Position am wichtigem Postweg Wesel–Berlin. Hermann, der Cherusker wird so zu Hermann, dem Postdirektor.

Ob die skizzierte These in der Kleistforschung der späten 1950er Jahre oder irgendwann danach ein Beben ausgelöst hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Zu einer posthistorischen Replik forderte sie allemal heraus. 1965 erschien mit einer redaktionell bedingten Verzögerung ein kurzer Aufsatz von Heinrich Breithaupt, der im Titel die Frage stellte: War Heinrich von Kleist tatsächlich der Bewerber um französische Postdienste in Westfalen? Breithaupts Antwort war negativ, und seine Skepsis stützte sich auf zwei Argumente: Erstens habe zur fraglichen Zeit ein Seconde-Lieutenant Friedrich Wilhelm Werner von Kleist in Hamm gelebt, der wohl als der wahrscheinlichere Kandidat gelten könne; zumal die Post Briefe immer dem am Ort wohnhaften und postbekannten Empfänger überreiche und keinem Bekannten, dessen Adresse man vielleicht nutzte. Zweitens versuchte sich der kurze Text am Nachweis, dass Lünen zum Bewerbungszeitpunkt postalisch bereits vollkommen bedeutungslos war – „für die Verwirklichung etwaiger Pläne des Dichters, den Korsen irgendwie zu beseitigen, wenig geeignet. In Lünen war der Leiter der Postdienststelle den ganzen Tag im Dienst ortsgebunden, Kleist hätte sich auf einem toten Gleis befunden.“

Die Replik erschien, wie gesagt, 1965. Laut redaktioneller Vorbemerkung lag der Beitrag zwei Jahre bei der Schriftleitung des Archivs für deutsche Postgeschichte. Wilhelm Beck war kurz vor Erscheinen des Betrags verstorben, habe aber die Einwände gekannt. „Dritten gegenüber hat er sich dazu dahin geäußert, man könne in der Sache auch anderer Meinung als er sein.“

 

Literatur

Beck, Wilhelm: Heinrich von Kleists Bewerbung um französische Postdienste in Westfalen, in: Archiv für deutsche Postgeschichte, Heft 1, 1958, S. 14–25.

Berger, Frank: Das Geld der Dichter in Goethezeit und Romantik. 71 biografische Skizzen über Einkommen und Auskommen. Wiesbaden 2020.

Breithaupt, Heinrich: War Heinrich von Kleist tatsächlich der Bewerber um französische Postdienste in Westfalen?, in: Archiv für deutsche Postgeschichte, Heft 1, 1965, S. 48–51.

Luks, Timo: In eigener Sache. Eine Kulturgeschichte der Bewerbung. Hamburg 2022.

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