„Meine Stärke war der Schnappschuss“ Helmut Orwat und seine Pressefotografien aus dem Revier

27.05.2025 Niklas Regenbrecht

Voller Körpereinsatz für ein gelungenes Foto. Helmut Orwat nutzt die Froschperspektive für eine Aufnahme der Jugendmannschaft des RC Olympia Castrop-Rauxel, um 1980. Foto: Helmut Orwat, LWL-Medienzentrum für Westfalen

Stephan Sagurna

Das fotografische Schaffen des Castroper Pressefotografen Helmut Orwat (*1938) befindet sich heute als Vorlass im Bildarchiv des LWL-Medienzentrums für Westfalen, sowie als Teil des ehemaligen Redaktionsarchivs des Westfalenspiegels, im Archiv der Kommission Alltagskulturforschung für Westfalen. Annähernd 5.000 Motive sind damit in diesen Archiven online verfügbar.

Der heute 86-jährige Orwat hat sich während seiner über vierzig Jahre währenden fotografischen Arbeit (ab 1960) konsequent der traditionellen Schwarz-Weiß Fotografie gewidmet. Der Color-Fotografie hat er sich versuchsweise angenähert, aber bis auf einige wenige Bildstrecken kein wirkliches Interesse daran entwickelt: „Trinkhallen gehören in Schwarz-Weiß! Die kann ich nicht in Color wiedergeben, das geht einfach nicht, dann ist die Stimmung weg.“

Dieses fotografische Selbstverständnis spiegelt nicht nur Orwats Vorliebe für das gestalterische Potential des analogen Schwarz-Weiß-Filmmaterials, das er in kräftigen und kontrastreichen Abzügen auszuschöpfen wusste, sondern zeigt sich auch als ein Spiegel der Mediengeschichte von Pressefotografie und Fotojournalismus der 1960er und Folgejahre.

Blick zurück auf ein Leben als Pressefotograf

Heute kann Helmut Orwat souverän auf sein Leben als Pressefotograf zurückblicken. Seit nunmehr zwei Jahren läuft eine Fotoausstellung zu seinem fotografischen Lebenswerk als Dauerbrenner und Publikumsliebling: „Täglich Bilder fürs Revier“. Als Sonder- und Wanderausstellung an inzwischen sieben Museumsstandorten und flankiert von einem ausstellungsbegleitenden Bildband, vermittelt das Projekt neben den schwarz-weißen Bildwelten der 1960er- bis 1990er-Jahre auch Einblicke in den Entstehungsalltag der analogen Fotoproduktion für die tagesaktuelle Presse. Der Blick ‚hinter die Bilder‘ ist dabei mindestens genauso spannend wie die Bildmotive selbst.

Der Fotograf Helmut Orwat vor dem Grundstein seines Wohnhauses in Castrop-Rauxel (der Grundstein trägt als Motiv eine in Sandstein gehauene historische Balgenkamera), 2022. Foto: Stephan Sagurna, LWL-Medienzentrum für Westfalen

Die tagesaktuelle Pressefotografie für die Castroper Redaktion der Ruhr Nachrichten, für die Orwat ab 1960 freiberuflich arbeitete, bedeutete eine feste Tagesroutine. Orientiert am Zeitplan des Redaktionsteams und den Zeiten für Satz (bis in die 1980er Jahre als Bleisatz) und Druck, begann der Tag des Pressefotografen mit den morgendlichen Redaktionsbesprechungen der Themen, für die Fotografien benötigt wurden – meist in der Größenordnung von etwa fünf Themen, die bis zum Nachmittag als fertig ausgearbeitete, druckfähige, SW-Vergrößerungen auf dem Tisch der Bildredaktion liegen mussten: Alltag, Freizeit, Arbeitswelt, Prominente und auch die Nachbarn von nebenan, glückliche Kleingärtner aber auch kleine und große Unfälle und Katastrophen, das Alltägliche und das Besondere.

Die tagesaktuelle Berichterstattung erforderte von Orwat (und seinen Kolleginnen und Kollegen aus der Branche) eine maximale fotografische Flexibilität. Jedes Thema, jede Geschichte die es zu illustrieren galt, verlangte für die Tageszeitung nach einem einzelnen Foto, welches das Thema „auf den Punkt“ bringt. Das war (und ist es bis heute) eine der Regeln für die Pressefotografie in der gedruckten Tageszeitung: Ein Thema – Ein Bild.

Gemeinsames Aufrichten eines Autos nach einem Unfall, Castrop Rauxel, 1960er Jahre. Foto: Helmut Orwat, LWL-Medienzentrum für Westfalen

Neben den fixen Themen war Orwat immer auch auf der Suche nach freien Themen und Bildmotiven, die er den Redaktionen mit anbieten konnte. Durch seine Vernetzung mit der Taxizentrale, der Feuerwehr und einem guten Draht zur Polizei, ergaben sich immer wieder Gelegenheiten für lohnende Fotomotive. Dementsprechend hatte Orwat sich das Motto „Bei Feuer, Unfall, Mord – Orwat kommt sofort“ nicht nur ‚auf die Fahnen geschrieben‘, sondern auch als Aufkleber auf die Heckklappe seines Autos geklebt.

Gegen Mittag mussten alle Aufnahmen „im Kasten“ sein. Danach begann die analoge Laborarbeit der Negativ-Entwicklung und anschließenden Vergrößerungsarbeiten.

Die analoge Postproduktion

Inspiriert durch Vorbilder wie Chargesheimer und Pan Walther hatte Orwat schon früh ein feines Gespür für gute Schwarz-Weiß Fotografie entwickelt. Der Umgang mit Tonwerten, Kontrasten und Nuancen in Schwarz-Weiß gehörte zu seinem Handwerkszeug, das er souverän beherrschte – nach den Anforderungen der Drucktechnik für den Rotations-Zeitungsdruck (knackig & kontrastreich) aber auch nach den ästhetischen Bedürfnissen und Sehgewohnheiten der Zeitungslesenden.

Kohlenanlieferung, Castrop-Rauxel, 1983. Foto: Helmut Orwat, LWL-Medienzentrum für Westfalen

Die Negativ-Entwicklung der SW-Kleinbildfilme behielt Orwat sich selbst vor. So konnte er den bereits belichteten Film im Labor, während der Entwicklung, nachträglich noch anpassen. Durch die individuelle Anpassung von Entwicklungszeit, Rezeptur, Bewegung und Temperatur während des Prozesses der Negativ-Entwicklung, ließen sich selbst feinste Nuancen des SW-Negativs steuern.

Das fertige Negativ, den entwickelten Kleinbildfilm mit 36 Aufnahmen im Negativformat von 24 x 36 mm, übergab Orwat sodann mit den entsprechenden Anweisungen an seine Laborantin. „Die Damen brauchten ein gutes Auge, auch ein Gefühl für die schwarz-weißen Tonwerte des Fotopapiers“ um seinen spezifischen „Look“ ausarbeiten zu können, so erinnert Helmut Orwat sich. Zudem wurde zügig gearbeitet, immer mit der Terminierung des Redaktionsschlusses vor Augen. Wenn es mal wieder schnell gehen musste, wurde ein Negativstreifen auch schon mal nass weiterverarbeitet oder mit Alkohol expressgetrocknet. Die manuellen Arbeitsschritte, Entwickeln, Stoppbad, Fixierbad, Wässern, mussten nicht nur für das Filmmaterial des Negativs vollzogen werden, sondern anschließend auch noch einmal in ähnlicher Art für die Positive, die finalen Vergrößerungen auf Fotopapier. Um 17:00 Uhr musste schließlich die Tagesausbeute an Fotografien auf dem Redaktionstisch der Ruhr Nachrichten (und/oder weiterer Zeitungen, für die Orwat auch fotografierte) vorliegen.

Neben den Ruhr Nachrichten zählten die Bild-Zeitung, Westfalenspiegel, WAZ, Welt am Sonntag, der Mittag und die Westfälische Rundschau zum Kundenstamm Helmut Orwats. Und damit es nicht zu Konkurrenz-Problemen der Kunden untereinander kam, hatte Orwat sich eigens dafür ein Pseudonym zugelegt, so dass er ein Thema problemlos unter zwei Namen vermarkten konnte.

Frühjahrsputz: Gut gelaunt wird im alten Rathaus Castrop-Rauxel das Porträt von Bundespräsident Gustav Heinemann gereinigt, Mai 1973. Foto: Helmut Orwat, LWL-Medienzentrum für Westfalen

Einzelbild vs Fotostrecke

Im Gegensatz zum tagesaktuellen Einzelbild für die Tageszeitung konnte Orwat auch Fotostrecken, also umfangreiche Bildserien von vier, fünf und mehr Aufnahmen zu einem Thema, für den Westfalenspiegel fotografieren. „Die Aufnahmeserien für den Westfalenspiegel habe ich gerne mit der Hasselblad fotografiert. Den Westfalenspiegel als Auftraggeber zu haben, das war gut für mein Ansehen als Fotograf, weniger fürs Portemonnaie. … Und anders als bei den tagesaktuellen Fototerminen hat mich auf den Westfalenspiegel-Touren gerne meine Ehefrau begleitet und dabei fleißig Informationen und Notizen für die Bildunterschriften gesammelt. So konnte ich mich ganz aufs Fotografieren konzentrieren.“ Erinnert sich Helmut Orwat, der für diese zweimonatlich erscheinende Zeitschrift auch etliche Titelmotive für das Cover fotografierte. Die historischen Westfalenspiegel-Ausgaben befinden sich heute – parallel zum fotografischen Redaktionsarchiv – im Bibliotheksbestand der Kommission Alltagskulturforschung.

Fotografisch bedeutete die Cover- und Magazin-Fotografie für Orwat mehr gestalterischen Spielraum. Vom klassischen Einzelbild über eine „fotografisch flanierende, bei Zeiten sogar mäandrierende Erzählweise“ bis hin zu grafisch abstrakten Motivlösungen war beim Westfalenspiegel über die Jahrzehnte so ziemlich alles möglich – mediengeschichtlich handelte es sich um die „Goldenen Jahre des Fotojournalismus“ während der die Magazin-Fotografie ab den späten 1950er- und bis in die 1980er-Jahre eine Blütezeit erlebte.

„Herne – eine Stadt sucht ihre Zukunft“ – vierseitige Fotostrecke im Westfalenspiegel, April 1975. Fotos: Helmut Orwat, Westfalenspiegel / Kommission Alltagskulturforschung für Westfalen

Die Fotografien Orwats zählen inzwischen zum fotografischen Erbe Westfalens. Damit haben sie einen Statuswechsel von der tagesaktuellen und fotojournalistischen Bildberichterstattung zum schützenswerten Kulturgut vollzogen. Flankiert wird diese Bedeutungsdynamik durch die UNESCO, die die analoge Fotografie „in Deutschland und darüber hinaus“ jüngst zum immateriellen Kulturerbe erklärt hat.

Ganz praktisch und pragmatisch gingen die Auszubildenden im Fotografenhandwerk, als Berufsschülerinnen und Berufsschüler am Adolph-Kolping-Berufskolleg Münster, mit dem fotografischen Lebenswerk von Helmut Orwat um. Im Rahmenprogramm der Fotoausstellung „Täglich Bilder fürs Revier“ hatten Sie die Möglichkeit seine Fotografien auf die „13 goldenen Regeln für den Fotojournalismus“ zu untersuchen. Das spannende Fazit war, dass trotz der technologischen Weiterentwicklung der Fotografie – in Farbe und zudem digital – die Grundlagen der Arbeitsweisen in Gestaltung und Produktion für gute und erfolgreiche Fotografie, so wie Orwat sie praktiziert hat, auch nach Jahrzehnten noch Bestand haben.

Titelseiten des Westfalenspiegel mit Orwat-Fotografien. V.l.n.r. Oktober 1963, September 1969, Juli 1972. Fotos: Helmut Orwat, Westfalenspiegel / Kommission Alltagskulturforschung für Westfalen

Literatur:

Landschaftsverband Westfalen-Lippe (Hg.): Täglich Bilder fürs Revier. Pressefotografien von Helmut Orwat, 1960 – 1992, Steinfurt 2023.

Alfons Eggert/Stephan Sagurna (Hg.): Kleine westfälische Fotografiegeschichte, Münster 2017.

Lars Bauernschmitt, Michael Ebert (Hg.): Handbuch des Fotojournalismus. Geschichte, Ausdrucksformen, Einsatzgebiete und Praxis, Heidelberg 2015.