Mensch und Tier unter Dach und Fach

16.06.2020

Ein Fachwerkhaus in Tecklenburg im jahr 1966. Foto: Joachim Hänel, Archiv für Alltagskultur in Westfalen.

Mensch und Tier unter Dach und Fach

Ländliches Wohnen im Tecklenburger Land anno 1788

Christof Spannhoff

„Bald danach durchquerten wir das weite, trostlose, unfruchtbare und schauerliche Westfalen [...]. In großen Hütten, die man Häuser nennt, lebt eine Art von Tieren, die man Menschen nennt, in dem herzlichsten Beieinander mit anderen Haustieren“, stellte der französische Philosoph Voltaire (1694–1778) 1750 anlässlich einer Reise durch Westfalen über die Behausungen der dort lebenden Landbevölkerung fest. Dieses harte Urteil des französischen Aufklärers über das ländliche Wohnen in Westfalen sollte allerdings nicht unkommentiert bleiben.

1767 veröffentlichte der Osnabrücker Staatsmann Justus Möser als Antwort auf Voltaires Kritik seine positive Schilderung der Lebens- und Arbeitsweise in einem niederdeutschen Hallenhaus, die unter dem Titel erschien: „Die Häuser des Landmanns im Osnabrückischen sind nach ihrem Plan die besten“. Darin werden die wirtschaftlichen und sozialen Vorzüge der ländlichen Wohnungen geschildert, in denen „alles unter Dach und Fach“ war.

Doch Möser war nicht der einzige, der die Vorteile der westfälischen Bauernhäuser lobte. Speziell für das Tecklenburger Land ist die Beschreibung eines typischen Tecklenburger Bauernhauses durch den Tecklenburger Hoffiskal August Karl Holsche (1746–1831) aus dem Jahr 1788 überliefert, die direkt Bezug auf Voltaires Beurteilung nimmt.

So schreibt Holsche: „Die Art zu bauen in der Grafschaft Tecklenburg hat etwas eigenthümliches, ist dem Zustande, worin die Landbewohner sind, so angemessen, daß die Häuser, so wie sie itzt eingerichtet werden, keiner Verbesserung fähig sind. Es ist wahr, der Bauer hat alle seine Früchte und sein Vieh bei sich im Hause, es ist aber nicht wahr, daß er mit den Schweinen aus einem Topfe ißt und alles durcheinander gehet.“

Westfälischer Bauernhof in Ladbergen, ca. 1950 - 1970. Foto: Dr. Herwig Happe, Archiv für Alltagskultur in Westfalen.

Zunächst beschreibt Holsche die Diele des Hauses, auf die man mit dem Wagen fahren konnte. Weil die Diele einer Halle glich, nannte man die Gebäude „Hallenhäuser“ Bei einem großen Bauernhaus war es sogar möglich, mit dem Wagen umzudrehen – ohne zurückzusetzen. Alles Getreide und Heu sowie Hanf und Flachs („Spinnewerk“) wurde auf die Diele gefahren und von dort auf den Balken gebracht, der die gesamte Fläche des Hauses einnahm. Da die Häuser zudem im Erdgeschoss niedrig, aber im Dach sehr hoch errichtet wurden, war auch bei ertragreicher Ernte stets genug Lagerfläche vorhanden.

In den sogenannten „Kübbungen“ stand das Vieh; auf der einen Seite die Pferde, auf der anderen die Kühe. Die Schweine wurden entweder in einem Winkel der Diele oder in einem separaten Schweinestall außerhalb des Gebäudes untergebracht. Diese Kübbungen gehörten nach Holsche nicht zum eigentlichen Haus, sondern waren an die innere, Jahrhunderte überdauernde Holzkonstruktion aus Eichenholz angebaut und konnten, wenn sie schadhaft wurden, leicht ausgetauscht werden. Holsche hatte hier also das typische sogenannte Zweiständerhaus vor Augen, bei dem zwei parallele Ständerreihen das Dach tragen, an die sich die Kübbungen, also die Stallabseiten, anschließen. Vermutlich kannte der Verfasser das modernere „Vierständer-Hallenhaus“ noch nicht, das keine Kübbungen mehr aufwies, weil die Seitenwände die gleiche Höhe besaßen wie die Ständer, die den Dielenraum begrenzten. Zwar kommt der Typ des Vierständerhauses im Münsterland schon seit dem frühen 16. Jahrhundert vor, im Tecklenburger Land haben sich derartige Bauten aber erst seit etwa 1800 erhalten. Sie scheinen also zu Holsches Zeit in der Region noch unbekannt oder erst vereinzelt vorgekommen, also noch nicht typisch gewesen zu sein.

Das Dach des Tecklenburger Bauernhauses wurde nach Holsche mit Stroh eingedeckt, weil diese Bedachungsart angeblich die Wärme besser isoliere, was Mensch und Tier zugutekomme. Zwar sei ein Strohdach in der Herstellung teurer als ein Ziegeldach, so der Autor, aber es lasse keinen Regen durch und seine Unterhaltung sei auf Dauer insgesamt kostengünstiger, weil die Haltbarkeit eines Strohdachs höher sei. Die Viehställe waren zudem durch das über ihnen gelagerte Stroh sowie Hanf und Flachs wärmegedämmt.

Bauernhaus in Tecklenburg

Über den Pferdeställen schliefen die Knechte, über den Kuhställen die Mägde. Die Schlafstätten des Gesindes wurden aus dem Grunde gewählt, damit das kostbare Vieh unter stetiger Beaufsichtigung stand; „denn hievon der Pflege des Viehs hängt der Wohlstand des Bauern ab“, bemerkt Holsche. Dass die Abwärme des Viehs aber auch der Temperierung dieser Schlafstellen diente, erwähnt der Hoffiskal nicht.

Im Winter wurde auf der Diele gedroschen und das Vieh konnte ohne große Mühe von der Diele aus gefüttert werden. Das gedroschene Korn lagerte der Bauer in Kisten. Zur Fütterung des Viehs dienten Heu und Stroh. Die Küche erstreckte sich über die gesamte Breite des Hauses und hatte an beiden Außenseiten viele Fenster, die den Raum aufhellten. Zudem war sie sehr geräumig, sodass sie Platz für Familie und Gesinde bot. Die Küche war von der Diele und den Ställen mit einer Wand abgetrennt. An dieser Stelle richtet sich Holsche erneut direkt gegen Voltaire, indem er bemerkt: „Mithin geht Mensch und Vieh nicht durcheinander, in vielen Bauernhäusern ist es in den Küchen sehr reinlich.“ Allerdings war die beschriebene Trennung von Diele und Küche eine bauliche Neuerung. Ursprünglich ging die Diele in die Küche über.

Holsche beschreibt auch den Herd des Hauses. Er war so angelegt, dass keine Feuergefahr von ihm ausgehen sollte. Zudem gibt Holsche an, dass die meisten Bauern mittlerweile steinerne Schornsteine eingebaut hatten. Zuvor war der Rauch durch das ganze Haus abgezogen, „welches freylich unangenehm war, von vielen alten Bauern aber fürs Vieh zuträglich gehalten wurde.“ Die zusätzliche Funktion des Räucherns der Fleischwaren wie Schinken, Speck und Wurst nennt Holsche allerdings nicht.

Die Mahlzeiten wurden gemeinsam von allen Hausbewohnern an einem großen Tisch in der Küche eingenommen. Dort wurde aber nicht nur gegessen, sondern auch gesponnen. An die Küche schlossen sich zur Diele hin zwei Stuben oder Kammern an. Die eine Stube, die in zwei Räume getrennt war, diente dem bäuerlichen Ehepaar als Schlafgemach und Aufenthaltsraum. Von beiden Räumen aus war die Beaufsichtigung der gesamten Diele möglich. Die andere Stube war Schlafraum der Kinder. In den Kammern hinter der Küche wurden Garn oder andere Sachen aufbewahrt. Zudem war hier der Webstuhl untergebracht. Unter einer dieser Kammern befand sich ein Keller.

Holsche bilanziert abschließend: „Man hat also alles, was zur Haushaltung gehört, bey einander, und ich wüßte nicht, wie es vernünftiger eingerichtet werden könnte. Die Scheure und die Viehställe außer dem Hause in besonderen Gebäuden zu haben, erschwerte unstreitig die Haushaltung, und der Wirth kann das Ganze nicht übersehen, das Vieh wird nicht so gut in Acht genommen, und das Gesinde ist sich zu sehr selbst überlassen.“

Voltaire waren diese wirtschaftlichen Vorteile des Zusammenlebens von Mensch und Vieh unter einem Dach vermutlich fremd. Doch er musste trotz aller Beanstandung der bäuerlichen Lebensverhältnisse feststellen: „In ihren verräucherten Hütten mit solch abscheulicher Nahrung sind diese Menschen der Vorzeit gesund, kraftvoll und fröhlich“.