Münsters „vergessene Verfolgte“: Stadtarchiv Münster erinnert mit Webseite an elf verfolgte Bürger:innen

26.01.2024 Marcel Brüntrup

Lucinda Jäger

Über die Schicksale von Münsteraner:innen in der Zeit des Nationalsozialismus, die wegen ihrer sexuellen Orientierung oder aus sozialrassistischen Gründen verfolgt wurden, ist bis heute vergleichsweise wenig bekannt. Homosexuelle Männer und Frauen, Sinti:zze oder Roma:nja oder Menschen aus sozialen Randgruppen, die als nonkonform galten, wurden durch den NS-Staat massiv ausgegrenzt, drangsaliert und ermordet. Sie wurden beispielsweise zwangssterilisiert, gefoltert, und in Konzentrationslager verbracht. Viele der überlebenden Betroffenen litten weit über das Jahr 1945 hinaus unter fortdauernden Diskriminierungen und den physischen und psychischen Folgen des Staatsterrors. Ihre Verfolgungserfahrungen wurden häufig weder angemessen noch ausreichend gewürdigt und Entschädigungsleistungen blieben für sie nahezu völlig aus. So bestrafte die Bundesrepublik Deutschland beispielsweise Homosexuelle weiterhin auf Basis eines NS-Gesetzes (§ 175a, StGB); eine schrittweise Entkriminalisierung erfolgte erst ab dem Jahr 1969.

Aufarbeitung von Verfolgungserfahrungen der „vergessenen Verfolgten“

Während jüdische, politische oder aufgrund ihres christlichen Glaubens Verfolgte des nationalsozialistischen Regimes nach jahrzehntelangen Auseinandersetzungen und Widerständen Eingang in die deutsche Erinnerungskultur fanden, wurden insbesondere diejenigen, die nach Kriegsende weiterhin gesellschaftlich ausgegrenzt waren, überwiegend ausgeblendet. Die Verfolgten gerieten meist in Vergessenheit – teilweise unbeabsichtigt, teilweise absichtlich. Im März 2021 beschloss der Stadtrat Münster, die Schicksale dieser bislang „vergessenen Verfolgten“ aufzuarbeiten, wissenschaftliche Lücken zur Thematik zu schließen sowie die Erinnerung an diese Personengruppen in der münsterländischen Erinnerungskultur zu verankern.

Regionale Forschung und Zusammenarbeit Münsteraner Institutionen

Von Oktober 2021 bis Dezember 2023 forschten der Historiker Timo Nahler und ein Projektteam des Stadtarchivs deutschlandweit zu den „vergessenen Verfolgten“ Münsters. Sie untersuchten zum einen eigene Bestände, zum anderen auch die Überlieferung in zahlreichen weiteren regionalen und überregionalen Archiven. Mithilfe von Justiz- und Behördenakten sowie Aufzeichnungen der Betroffenen konnten bis Ende 2023 die Namen von mehr als 300 bisher unbekannten Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung aus Münster dokumentiert werden. Dadurch wurden individuelle Diskriminierungen und Verfolgungserfahrungen nachvollziehbar. In enger Zusammenarbeit mit dem Geschichtsort Villa ten Hompel und dem Amt für Gleichstellung wurden parallel dazu Vermittlungs- und Gedenkformate entwickelt.

Neue Webseite macht elf Schicksale und Verfolgungserfahrungen sichtbar

Ausgewählte Lebenswege von „vergessenen Verfolgten“. © Stadt Münster/Astrid Nippoldt

In Kooperation mit dem Amt für Kommunikation der Stadt Münster hat das Team des Stadtarchivs eine Webseite erstellt, auf der Bürger:innen umfassende Informationen und Hintergründe zu den vergessenen Verfolgtengruppen finden können.

Mit dem Zug wird Maria Sibonus im März 1943 nach Auschwitz deportiert. © Stadt Münster/Astrid Nippoldt

Die ausgewählten Lebenswege zeigen einerseits die sozialen und wirtschaftlichen Zwänge sowie Mechanismen der Ausgrenzung und andererseits die Überlebensstrategien der Betroffenen. Die auf der Webseite dargestellten elf Biografien stehen dabei symbolisch und stellvertretend für alle „vergessenen Verfolgten“ der Stadt Münster. In ihnen werden auch die aktiven Anstrengungen der Betroffenen sichtbar, sich dem Zugriff des Regimes zu entziehen und zu überleben. Auf der Webseite finden Interessierte Illustrationen zu den Personen und viele Informationen zu den in Archiven erforschten Lebenswegen der „vergessenen Verfolgten“. Da nur in äußerst wenigen Fällen noch Fotografien der Verfolgten vorlagen, illustrierte die Künstlerin Astrid Nippoldt die individuellen Biografien mit sehr schönen Zeichnungen.

Die grüne Gasse am Rande der Münsteraner Altstadt: Der letzte Wohnort Paul Hülsmanns vor seiner Einweisung ins Arbeitshaus 1937. © Stadt Münster/Astrid Nippoldt

Parallel dazu hat der Geschichtsort Villa ten Hompel einen Thementag für Schulgruppen entwickelt und für dieses Jahr Vorträge, Veranstaltungen und Veröffentlichungen zum Thema geplant, die regelmäßig auf der Webseite der Villa ten Hompel veröffentlicht werden. Zusätzlich befinden sich pädagogische Handreichungen und didaktische Materialien für den Schulunterricht in Vorbereitung. Das Projekt und die Webseite bieten sowohl für interessierte Bürger:innen als auch für pädagogische Einrichtungen einen guten, umfassenden Einblick in individuelle Verfolgungserfahrungen von Münsteraner:innen während des nationalsozialistischen Regimes und leisten einen wichtigen Beitrag zur münsterländischen Erinnerungskultur.