Wenn sie quellenmäßig gut greifbar sind, geraten die Ausführungen zu einzelnen Personen mitunter sehr ausführlich. Das ist der Fall, wenn sie beispielsweise unternehmerisch tätig geworden sind. So geht es etwa um eine Kornbrennerei oder mehrere Gastwirtschaften, aber auch um eine Stuhlfabrik in Detmold. Am Rande kommen auch eine „Stehbierhalle“ in Wilhelmshaven und eine Fuchsfarm in Niedersachsen vor. Die Darstellungen beziehen sich geographisch also nicht ausschließlich auf Ostbevern.
Manche biografische Kapitel beeindrucken wegen ihrer Detailliertheit und Ausführlichkeit, etwa das Kapitel über den Senator der Freien Stadt Danzig, Hugo Althoff (1884-1960) oder der Abschnitt über eine „Kriegerwitwe“ – der Besitzerin des titelgebenden Koffers –, deren Briefe aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg den Blick auf den Alltag der Menschen zu dieser Zeit lenken.
Neben Lebensläufen werden zahlreiche Sachthemen angeschnitten, wie etwa die Spanische Grippe, der Umgang mit Ostvertriebenen, eine Lawinentragödie oder das Sparverhalten einer alten Dame – um nur ein paar wenige Themengebiete zu nennen.
Der Verfasser ist scheinbar nicht der Erste, der sich mit der Geschichte dieser Familie befasst. Er bindet frühere familienhistorische Arbeiten mit ein und integriert auch etwa einen Vortrag zur Familiengeschichte oder eine Familienchronik, beide aus den 1950er Jahren, in seine Veröffentlichung.
Neben zahlreichen Fotografien werden weitere Quellen präsentiert, wie Hochzeitszeitungen, Zeitungsanzeigen oder geografische Karten. Dabei ist positiv hervorzuheben, dass die Quellen nicht unkommentiert gelassen werden, sondern in den Kontext ihrer Zeit gestellt werden.
Nach den Kapiteln zu den einzelnen Familienzweigen folgen Darstellungen zum „Leben, Feiern und Sterben“, wie es eine Zwischenüberschrift nennt. Den im Sprachgebrauch der Zeit als „Sippenfeste“ bezeichneten Treffen der Familie seit 1956 mit über 200 Teilnehmern ist etwa ein eigenes Kapitel gewidmet. Was durch das vorherige Einbinden und Zitieren von früheren „Geschichtsschreibungen“ der Familie bereits anklang, wird hier noch deutlicher: es handelt sich um eine Familie mit ausgeprägtem Geschichtsbewusstsein. Familien- oder zeitgenössisch „Sippentage“ solcher Familien sind bislang nur rudimentär erforscht, von daher ist es positiv hervorzuheben, dass die Darstellung eines konkreten Beispiels hier ausführlich erfolgt und auch etwas über die familiäre Festkultur und das Familienbewusstsein verrät. Nicht nur in Westfalen waren über die Kernfamilie weit hinausgehende Treffen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und verstärkt mit dem nationalsozialistischen Aufschwung in der Familienforschung seit den 1930er Jahren verbreitet. Damit gingen häufig auch die Gründungen so genannter „Familien- oder Sippenverbände“ einher. Das alles wird von Othmar Rest gut nachvollziehbar geschildert. Allerdings wäre an dieser Stelle gegebenenfalls die Verwendung eines neutraleren Begriffs statt der Übernahme des Quellenbegriffs „Sippenfest“ oder seine begriffsgeschichtliche Kontextualisierung wünschenswert gewesen.
Andere Kapitel der Veröffentlichung sind ausgehend von überlieferten Totenzetteln dem Umgang mit dem Tod und Bestattungsritualen gewidmet. Zusammenfassende Familientafeln schließen den Band ab.
Die von Othmar Rest präsentierte Verbindung der quellengesättigten und reich bebilderten Geschichte einer Großfamilie mit einzelnen längeren und kürzeren Biographien, die in den Kontext ihrer Zeit eingebettet werden, hat Vorbildcharakter. Die Texte sind angenehm lesbar, die vielfältigen Quellenauszüge sind farblich vom Rest des Textes abgehoben, wie auch die Gesamtgestaltung überzeugen kann. Neben den unmittelbar „Betroffenen“, den Nachfahren der behandelten Familien, ist diese Publikation jedem als Anschauungsmaterial empfohlen, der sich mit dem Gedanken trägt, eine Hof- und Familiengeschichte zu verfassen. Die Publikation bringt der Leserin und dem Leser nicht nur die Geschichte einer konkreten Großfamilie nahe. Es wird darüber hinaus die Geschichte des Alltagslebens in Westfalen und anderswo erzählt. Und letztlich zeigt sich auch, welche Geschichten man aus einem Koffer alter Dokumente herauslesen kann.
Bibliographische Angaben: Othmar Rest: Mutters Koffer. Geschichten um Familie Schulze Althoff aus Ostbevern und Westfalen, Berlin 2025, 756 Seiten, Selbstverlag, ISBN 978-3-9827358-1-8.
Weitere Informationen, Leseproben und Bezugsmöglichkeiten sind zu finden unter: https://mutters-koffer.de/