Radfahren in Westfalen und Lippe-Detmold an der Wende zum 20. Jahrhundert

20.05.2025 Niklas Regenbrecht

Timo Luks

1884 wurde in Leipzig der Deutsche Radfahrer-Bund (DRB) gegründet. Die 40 regionalen Gliederungen trugen den Namen „Gau“. Gaueinteilung und Gaugrenzen lassen sich auf einer durch die Polnische Nationalbibliothek digitalisierten Karte aus dem Jahr 1892 nachvollziehen: http://polona.pl/preview/46231a0f-2443-4198-977f-e6ff768d5ba8. Westfalen war als Gau III präsent.

In den Händen der einzelnen Gaue lagen die Beantragung und Organisation von Radrennen und Wanderfahrten, aber auch eine vielfältige Publikationstätigkeit. So entstanden zahlreiche Karten und Tourenbücher für Radfahrerinnen und Radfahrer. 1901 erschien im Bielefelder Verlag C. Brockmann der Wegweiser für Radfahrer durch den Gau III (Westfalen und Lippe-Detmold) des Deutschen Radfahrer-Bundes.

Im Vorwort wies der 1. Vorsitzende des westfälischen Verbands, Dr. Fischer, darauf hin, dass die Planungen dafür bereits länger zurückreichten. „Durch verschiedene Umstände verzögerte sich die Sichtung und Zusammenstellung des bereitwilligst vom Gaufahrwart, Herrn H. Ensenroth, Bielefeld, und von mehreren Sportskollegen dem Gau zur Verfügung gestellten Materials; ausserdem waren aber noch zahlreiche Touren lediglich für den ‚Wegweiser‘ abzufahren, eine Arbeit, der sich hauptsächlich wiederum oben genannter Gaufahrwart unterzog.“

Das Vorwort präsentierte den Band als „nützliches Hilfsmittel beim Wanderfahren […] durch unser liebes, schönes Westfalenland“ und präsentierte das „Wanderfahren“ wiederum als „schönsten Zweig unseres Radsports“. Wanderfahrten hatten keinen Wettkampfcharakter, waren aber in den ersten Jahrzehnten der Rad- und Radsportgeschichte außerordentlich bedeutsam. Oft wurden sie von den gleichen Vereinen organisiert, die sich auch an (Amateur-)Radrennen beteiligten und auf diese Weise unterschiedlichen Interessen am Radfahren Rechnung trugen. Zahlreiche Vereine verfolgten – mit unterschiedlichen und sich auch über die Zeit immer wieder verändernden Schwerpunkten – eine Doppelstrategie: Wanderfahrten und Rennbeteiligung bzw. Rennorganisation. Der Iserlohner Kreisanzeiger berichtete beispielsweise am 29. April 1909 in einer Mitteilung über den ortsansässigen Verein, den Radfahrer-Klub 1894:

„Dem Wanderfahren in unsere nähere und weitere Umgebung wird auch in diesem Jahre seitens des Radfahrer-Klubs 1894 (Bundes-Verein) besonderes Interesse entgegengebracht. Eröffnet wird die Fahrsaison am nächsten Sonntag früh mit der Fahrt ins romantische Hönnetal; außer diesen kleinen Klub-Partien, die regelmäßig Sonntags früh und an den Wochenabenden mit wechselndem Ziele stattfinden, hat der Klub auch für jeden Monat eine Tagesfahrt vorgesehen und zwar eine solche zum Altenberg, ins Aggertal und nach Berleburg. Um auch die sporttreibende Jugend und Straßenwettfahrer zu ihrem Recht kommen zu lassen, sind gemeinschaftliche Trainingsfahrten, Fernfahrten wie Rund um Iserlohn am 20. Mai, Quer durch Westfalen am 27. Juni, beschlossen, die ebenfalls großes Interesse für unsere Radler haben dürften. Zu allen Tourenfahrten sind Nichtmitglieder des Vereins willkommen und hoffentlich machen recht viele Freunde unseres schönen Radsport[s] von dieser Gelegenheit Gebrauch.“

Zahlreiche Vereine erschlossen seit der Wende zum 20. Jahrhundert ein Radrenn- und Radwander-Westfalen und trugen so zu einer räumlich erfahrbaren regionalen Identität bei. Tourenbücher systematisierten diesen Raum. Der Wegweiser für Radfahrer durch den Gau III vermerkte im Vorwort:

„Es sind nur grössere Touren zusammengestellt, die aber ziemlich das ganze Gebiet unseres Gaues erschliessen und aus denen wieder gewünschte kleinere Touren herausgefunden werden können.“

Streckenverzeichnis im Wegweiser für Radfahrer durch den Gau III (Westfalen und Lippe-Detmold) des Deutschen Radfahrer-Bundes.

Das Tourenbuch listete zunächst die insgesamt 50 Strecken auf, alphabetisch sortiert nach dem Startort. Dem folgte ein kleinteiliges Ortsverzeichnis, dem zu entnehmen war, welche Touren durch den jeweiligen Ort führten. Wo auch immer in Westfalen man also wohnte: Dank des Tourenbuchs konnte man sofort Anschluss finden und so von überall her in die radwandernde Erkundung Westfalens einsteigen.

Lediglich drei Streckenvorschläge waren kürzer als 20 Kilometer, auch wenn natürlich keine Notwendigkeit bestand, einer Route bis zum angegebenen Zielort zu folgen. Bei der mit 16 Kilometern Länge kürzesten Strecke handelte es sich um eine Tour von Bielefeld über Werther nach Halle/Westf., auf einer „ziemlich gute[n], aber stark hügelige[n] Chaussee“ (S. 22). Am anderen Ende fanden sich fünf Strecken mit über 90 Kilometern, zwei davon mit deutlich über 100 Kilometern Länge. Der längste Tourenvorschlag führte von Rheine über Ahaus, Dorsten und Buer nach Bochum: 137 Kilometer, die „ganze Strecke ebenes Gelände, mit guten Strassen“ (S. 125). Mit derartigen Distanzen bewegte man sich bereits im Bereich kleinerer Straßenrennen für Amateure, die die Vereine des Deutschen Radfahrer-Bunds in Westfalen zahlreich veranstalteten (von denen die profiliertesten dann aber doch eine Länge von 200 oder mehr Kilometern aufwiesen).

Streckenverzeichnis im Wegweiser für Radfahrer durch den Gau III (Westfalen und Lippe-Detmold) des Deutschen Radfahrer-Bundes.

Die größeren westfälischen Städte waren Startpunkt gleich mehrerer Touren, die sich strahlenförmig in alle Richtungen zogen. Zehn Touren starteten in Bielefeld, sieben in Hagen, je sechs in Dortmund, Minden und Münster. Ausgehend von Münster konnten Radwandernde je nach Lust und Laune Streckenvorschlägen über Burgsteinfurt nach Rheine, über Drensteinfurt nach Hamm, über Werne nach Dortmund, über Warendorf und Wiedenbrück nach Paderborn, über Coesfeld, Borken und Bocholt nach Anholt oder über Haltern nach Wesel folgen. Der Wegweiser für Radfahrer, das soll hier betont werden, war kein Kartenwerk. Vielmehr präsentierte er die Strecken in Tabellenform. In den einzelnen Spalten finden sich laufende Kilometerangaben, Entfernungen von Ort zu Ort, Kilometersteine zur Orientierung, ein Ortsverzeichnis mit Angaben zu Sehenswürdigkeiten, allgemeinen Informationen und konkreten Wegbeschreibungen sowie die Höhenmeter.

Tour Nr. 21 (S. 63–66) führte von Münster über Haltern nach Wesel: „Fast ebenes Gelände, gute Strassen“. Natürlich wurde der Prinzipalmarkt als Startpunkt angesetzt. Von dort aus führte der Weg auf der Weseler Straße nach Albachten, Appelhülsen und Buldern. Von Buldern ging es weiter über Dülmen, Haltern, Wulfen, Schermbeck und Peddenberg nach Wesel. Wie üblich bot das Tourenbuch des DRB für zahlreiche Stationen kleine und mittlere Nebenrouten an, so dass sich das gesamte Radwander-Westfalen in der Fläche abdecken ließ.

Die Haupt- und Nebenstrecken durchschnitten die Region nicht, sondern legten sich wabenartig über sie. War man bei Tour Nr. 21 etwa einmal in Dülmen angekommen (oder wollte an diesem Punkt einsteigen), boten sich alternative oder ergänzende Schleifen über Coesfeld und Ahaus nach Gronau oder über Seppenrade nach Lüdinghausen an. Die laut Tourenbuch 5.000 Einwohnerinnen und Einwohner Dülmens erfreuten sich, wie die Kürzel in der Streckenbeschreibung anzeigten eines Postamts, eines Telegrafenamts und einer Bahnstation. Als Sehenswürdigkeit galt das „Schloss des Herzogs von Kroy“. Daneben fanden sich in der Ortsbeschreibung Hinweise auf ortsansässige Industrien sowie ein Hotel. Das war das typische Muster für die Ortsbeschreibungen.

Die Strecke „Münster – Haltern – Wesel“ im Wegweiser für Radfahrer durch den Gau III (Westfalen und Lippe-Detmold) des Deutschen Radfahrer-Bundes.

Tourenbücher für Radfahrerinnen und Radfahrer – im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gab es viele davon, ergänzt um immer zahlreichere Kartenwerke – sind inzwischen von verschiedenen Bibliotheken für verschiedene Regionen digitalisiert worden. Sie geben Aufschluss über die Bedeutung des Radwanderns und Fahrradtourismus für regionale Identitätsbildung und die räumliche Erfahrung einer Region. Das wäre ihr historisch-kulturwissenschaftlicher Quellenwert. Ihr radtouristischer Wert liegt in der Möglichkeit, vielleicht noch neue Strecken zu entdecken – oder radfahrend herauszufinden, wo heutige Radwanderwege nach wie vor Strecken folgen, auf denen bereits vor über 120 Jahren sportlich oder touristisch pedaliert wurde.

 

Literatur:

Wegweiser für Radfahrer durch den Gau III (Westfalen und Lippe-Detmold) des Deutschen Radfahrer-Bundes. Nach örtlichen Aufnahmen und anderen Quellen zusammengestellt von H. Ensenroth, Bielefeld 1901. (Digitalisat: Lippische Landesbibliothek, Detmold: https://digitale-sammlungen.llb-detmold.de/content/titleinfo/6077160)

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