Religiöse Praxis in der Nachkriegszeit – fotografiert von Walter Nies

02.05.2025 Niklas Regenbrecht

Barbara Stambolis

Den Lippstädter Fotografen Walter Nies interessierten Mimik und Gestik der Menschen sowie Atmosphärisches von Situationen und Ereignissen. Er dokumentierte zahlreiche Einweihungen von Heimen und Kirchen und auch Prozessionen und Wallfahrten in Westfalen. Seine Bilder bieten viel Interpretationsspielraum.

Ein Fotograf unterwegs in Westfalen  

Walter Nies (1918-2008) war Autodidakt; er fotografierte seit Mitte der 1930er Jahre. 1942 bis 1945 war er für die Bann-Bildstelle der Hitlerjugend in Lippstadt, ab 1943 auch für die Bildstelle der HJ Westfalen-Süd in Bochum tätig. Finanziell war er unabhängig, denn seine Familie besaß in Lippstadt eine Brauerei. Er arbeitete nach 1945 unter anderem unentgeltlich für die „Katholische Osthilfe“, die Flüchtlinge unterstützte. Er selbst war nicht katholisch. Seine Bilder dienten beispielsweise als Illustrationen (ohne namentliche Nennung des Fotografen!) für Hilfeaufrufe der Caritas. Er nahm in den 1940er und 1950er Jahren als Beobachter an zahlreichen Einweihungen von Heimen und Kirchen, an Besuchen kirchlicher und politischer Prominenz in der näheren Umgebung teil. In Sequenzen erzählte Nies mit seinen Fotos vielfach Bildgeschichten im Stil von Fotoreportagen. Er dokumentierte mit visuellen Mitteln Situationen von Menschen in Not, denen dank caritativer Initiativen geholfen werden konnte. Kinder und Jugendliche standen häufig im Mittelpunkt seiner Aufnahmen, beispielsweise heimat- und elternlose, deren verzweifelt und erschöpft wirkende Gesichter sich in erleichterte, unter liebevoller Zuwendung und Fürsorge in dankbare und fröhlich lachende verwandelten. Solche mit fotografischen Mitteln erzählten Hoffnungs-Geschichten waren in der Nachkriegszeit verbreitet.

Nicht zuletzt fotografierte er Prozessionen und Wallfahrten im ländlichen Westfalen. Bei festlichen Gelegenheiten entdeckte er auch scheinbar Nebensächliches am Rande des Geschehens. Seine Bilder zeigen das Idealbild einer Religiosität, die Menschen nach den Schrecken der NS-Zeit und des Krieges Halt und Sicherheit gab. Dies entsprach dem damals verbreiteten Narrativ von der Kirche als „Siegerin in Trümmern“.

Fotoarchiv Nies, Stadtarchiv Lippstadt, 0553 i 025. Fronleichnam 1947 im Kreis Soest.

Vom Leben im Glauben 1947

Fronleichnam war eines der ersten Kirchenfeste, das nach Kriegsende 1945 so begangen werden konnte, wie gläubige Katholiken es vor 1933 gewohnt gewesen waren. Sie fanden Halt und Orientierung in einem symbolischen Handeln, das heimatliche und religiöse Wertorientierungen gleichermaßen umschloss. Straßen wurden mit Ehrenbogen und Blumen geschmückt, die oft in kunstvollen Mustern auf dem Boden angeordnet waren. Die Menschen kleideten sich festlich und warteten auf den priesterlichen Segen, hier im Kreis Soest auf die Ankunft des Paderborner Erzbischofs Lorenz Jaeger (1892-1975). Die heitere Anmutung der Niesʼschen Fotos im ländlichen Westfalen des Jahres 1948 spiegeln wider, wie die Teilnehmenden sich und die religiöse Übung sehen wollten: als freudiges und überzeugtes Bekenntnis zum Katholizismus.

Fotoarchiv Nies, Stadtarchiv Lippstadt, 0553 j 029. Fronleichnam 1947 im Kreis Soest.
Fotoarchiv Nies, Stadtarchiv Lippstadt, 0553 l 034. Fronleichnam 1947 im Kreis Soest.
Fotoarchiv Nies, Stadtarchiv Lippstadt, 0853 i 109. Wallfahrt in Werl, Juli 1951.

Wallfahrt in Werl, Juli 1951

Werl war (und ist) ein bedeutender Ort der Marienverehrung und einer der bedeutendsten westfälischen Wallfahrtsorte, er zog bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts große Pilgermengen an. Im Zusammenhang mit der politisch beabsichtigten und kirchlich unterstützten Beheimatung und Integration von Flüchtlingen erfreute sich die Werler Wallfahrt seit 1946 großer Beliebtheit. Die Paderborner Bistumsleitung sah sehr deutlich das Potential der Marienfrömmigkeit, die die lebensweltlich tief im Glauben verwurzelten katholischen Flüchtlinge aus ihren Herkunftsgebieten mitbrachten. Der Paderborner Erzbischof nahm regelmäßig an den Wallfahrten teil, 1950 beispielsweise, als die Teilnehmendenzahlen bereits auf etwa 30.000 angestiegen waren. 1951 erreichten sie einen Höhepunkt mit der Teilnahme des Apostolischen Visitators Alois Muench (1889-1962). Lediglich 1953 wurde diese Bedeutung wohl noch einmal übertroffen, als die Wallfahrtskirche in Werl zur Basilica Minor erhoben wurde, weswegen Bundeskanzler Konrad Adenauer (1876‑1967) und Josef Kardinal Frings (1887-1978) kamen. Bei einer der Vertriebenenwallfahrten sollen 70.000 Pilgerinnen und Pilger gezählt worden sein. Die Fotoserie von Walter Nies aus dem Jahre 1951 vermittelt den Eindruck einer im Fest geeinten intakten katholischen Welt, die Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus kollektiv ausblendete. Die Fotos zeigen indes aus heutiger Sicht betrachtet auch, dass die vertrauensvoll selbstverständliche Ehrerbietung Gläubiger in der hier sichtbaren Weise der Vergangenheit angehört.

Fotoarchiv Nies, Stadtarchiv Lippstadt, 0853 a 076. Wallfahrt in Werl, Juli 1951.
Fotoarchiv Nies, Stadtarchiv Lippstadt, 0853 h 103. Wallfahrt in Werl, Juli 1951.
Fotoarchiv Nies, Stadtarchiv Lippstadt, 0853 i 108. Wallfahrt in Werl, Juli 1951.

Eine Einweihung in Wewelsburg, August 1949

Ein katholisches Heim für männliche Kriegswaisen öffnete 1949 in Wewelsburg seine Türen. Junge Flüchtlinge sollten dort für einige Zeit ein Zuhause finden und eine Ausbildung beginnen können. Die Wewelsburger Einrichtung bestand nur bis zum Jahre 1953. Die ortsansässige Bevölkerung stand – wie andernorts auch – Flüchtlingen distanziert gegenüber. Für die Jugendlichen fanden sich kaum Betriebe, die sie als Lehrlinge aufzunehmen bereit waren. Bei der von Walter Nies dokumentierten Heimeröffnung 1949 ließ sich noch nicht absehen, dass dieser Initiative kein Erfolg beschieden war. Niesʼ Intention war zweifellos, freudige Gesichter zu zeigen. Er wusste, dass sich Bilder von Kindern und Jugendlichen eigneten, um erfolgreich für Spenden zu werben. Sie trugen ja, so das damals verbreitete Narrativ, keine Schuld an dem menschenverachtenden NS-Regime. Welche Absicht Nies damit verfolgte, auf einigen Fotos Kinder als Zaungäste und als Zuschauer eines Kaspertheaters festzuhalten? Ob er die Eröffnungsfeier in humorvoller Weise als Theater mit der Kamera festhalten wollte? Spielten alle Akteurinnen und Akteure Rollen auf einer Bühne, deren Nebenschauplatz, eine Hinterbühne, gleichsam der Spiegel der Vorderbühne war? Das hatte er wohl nicht beabsichtigt.

Fotoarchiv Nies, Stadtarchiv Lippstadt, 0859 c 014. Einweihung eines Heimes in Wewelsburg, August 1949.
Fotoarchiv Nies, Stadtarchiv Lippstadt, 0859 f 024. Einweihung eines Heimes in Wewelsburg, August 1949.
Fotoarchiv Nies, Stadtarchiv Lippstadt, 0859 f 025. Einweihung eines Heimes in Wewelsburg, August 1949.

Literatur

Christine Aka: Nicht nur sonntags. Vom Leben mit dem Glauben 1880-1960 (Alltagsgeschichte in Bildern, 1), Münster 2003.

Claudia Becker: Fleißig fotografiert – 20.000 plus X. Walter Nies und sein Lebenswerk im Stadtarchiv Lippstadt, in: Archivpflege in Westfalen-Lippe 87 (2017), S. 28-33.

Thomas Großbölting: Der verlorene Himmel. Glaube in Deutschland seit 1945, Göttingen 2013.

Barbara Stambolis: Lorenz Jaeger fotografiert von Walter Nies, in: Nicole Priesching, Markus Leniger (Hg.): Lorenz Jaeger als Person, Paderborn u.a. 2024, S. 199-240.