Der Bildband bringt vier künstlerisch, historisch und architektonisch argumentierende Textbeiträge von Andrea Gnam, Stefanie Siedek-Strunk, Isabell Eberling und Chiara Manon Bohn mit 53 künstlerischen Fotoarbeiten von Thomas Kellner in Berührung. Ergänzt werden diese beiden Teile durch die Einzelvorstellungen der 53 Kapellenschulen von Afholderbach bis Zinse.
Im Mittelpunkt der deutsch- und englischsprachigen Publikation stehen zweifelsohne die verfremdenden Bildwerke von Thomas Kellner, für die er eine Vielzahl von Fotografien auf Rollfilm aufgenommen hat, dessen Filmstreifen er nach dem Entwickeln neu geordnet und auf Kontaktbögen zusammengeführt hat. Was dabei herausgekommen ist, sind Bilder von einzelnen Kapellenschulen, die mehr sind als bloße Abbilder. Sie vereinen Wiedererkennbarkeit mit dem Gefühl, das Gezeigte zum ersten Mal zu sehen. Die statischen Architekturaufnahmen erhalten durch Kellners Technik eine Dynamik, die über das Dokumentarische hinausweist. Der Blick des Betrachters/der Betrachterin bleibt an Details hängen, stellt Gewusstes und scheinbar Eingängiges in Frage. Kellners Bildwerke verhindern vorschnelle Blicke und Kategorisierungen. Das lässt sich beispielsweise anhand der Glockentürme verdeutlichen: Auf den Dächern der Kapellenschulen waren sie ein gut wahrnehmbares Zeichen der engen Verbindung, die Religion und Schule hier eingegangen waren. Auf den Bildern von Kellner verlieren sie aber ihre Festigkeit, sie werden teils zu Fragezeichen oder scheinen sich optisch zu doppeln. Hier werden nicht unumstößliche Zeugen des Glaubens, sondern Deutungsangebote und Zweifel ins Bild gesetzt, die Platz machen für eine kritische Auseinandersetzung mit Glauben und Wissen.
Das kommt der Thematik des Buches zugute, sind doch die Kapellenschulen historisch und architekturgeschichtlich durchaus gut untersucht. Die Entrücktheit, die die historischen Gebäude durch die künstlerischen Bildwerke von Thomas Kellner gewinnen, weckt aber Interesse an jedem Gebäude und seiner speziellen Geschichte. Diesem wird durch die Vorstellung der einzelnen Kapellenschulen im letzten Teil des Buches (S. 156-205) nachgekommen. Hier erfährt man, dass einige von ihnen noch bis in die 1960er Jahre als Schulgebäude genutzt wurden, dass viele heute Baudenkmäler sind und dass einige als Gemeinschaftshäuser teils unter der Bezeichnung „Alte Schule“ weiterhin kommunal genutzt werden.
Der Anstoß zu der gelungenen Publikation geht übrigens zurück auf Thomas Wolf, den Leiter des Archivs des Kreises Siegen-Wittgenstein. Ein fotokünstlerischer Zugang zu einem historischen Thema ist immer ein Wagnis. Wenn er – wie in diesem Fall – glückt, haben beide Seiten viel gewonnen.
Literatur:
Kellner, Thomas (Hrsg.): Kapellenschulen. Auf den Spuren der nassauischen Grafen Wilhelm I. und Johann VI. Chapel Schools: In the footsteps of the Nassau counts William I and John V., Berlin 2022